Ohne Verfallsdatum
Bei der Vorbereitung eines Vortrags stieß ich in der letzten Woche auf einen Satz, der zuerst mich und dann einige Zuhörer des Kongresses sehr bewegte, auf dem ich den Vortrag hielt. Er fand am letzten Wochenende in Saarbrücken statt, wurde vom Bundesverband für Kommunale Filmarbeit veranstaltet und war dem Thema Cinéphilie gewidmet. Der Satz, der uns so beeindruckte, lautet: »Es gibt keine alten Filme.«
Er stammt von dem Kritiker Alain Masson, der sich für einen Themenschwerpunkt der Zeitschrift »Positif« im Oktober mit dem zutiefst französischen Phänomen der Cinéphilie beschäftigte. Wahrscheinlich war der Satz eine Replik auf den ewigen Widerspruchsgeist Godard, der irgendwann anfing, doch von »alten« Filmen zu sprechen. Selbstredend war Masson der geeignetere Gewährsmann für meine Überlegungen, die um die enorme Wiederbelebung der französischen Filmlandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg kreisten. Die Begeisterung, die sich damals Bahn brach, richtete sich ebenso sehr auf aktuelle wie auf Vorkriegsfilme, die nach Ende der deutschen Besatzung endlich in Frankreich gezeigt werden konnten. Massons Auffassung ist mithin offen, sie überschreitet historische, topographische und ideologische Grenzen. Interessanterweise fand ein zweites Credo, das er für die klassische Cinéphilie beanspruchte, während des Kongresses weniger Nachhall: »Es gibt keine ausländischen Filme.«
Das ist insofern nachvollziehbar, als es für die Betreiber kommunaler Kinos sicherlich das größere Problem darstellt, noch ein Publikum für Filme zu finden, die nach den Gesetzen des schnelllebigen Marktes ihr Verfallsdatums längst überschritten haben. Beim Lesen von Massons Text wurde mir indes auch klar, dass meine Voreingenommenheit eher in die andere Richtung geht: Es erscheint mir als der cinéphilere Akt, in einen »alten« Film zu gehen.
Während meiner Studentenzeit gehörten Wiederaufführungen noch mit größter Selbstverständlichkeit zum Programm der Berliner Kinos. Dabei handelte es sich nicht nur regelmäßig um Lubitsch-Komödien oder die unvermeidlichen Screwball comedies. (Siehe auch »Der Winter, der ein Sommer war« vom 2. Dezember letzten Jahres) Besonders lebhaft ist mir in Erinnerung, wie »Nachtzug« von Jerzy Kawelerowicz wieder herauskam. Es gab sogar Verleiher, die sich darauf spezialisierten, beispielsweise der kurzlebige »Amazonas«. Auch »Neue Visionen«, der dieser Tage sein 20jähriges Jubiläum feiert, gehört dazu – was vielleicht nicht einmal ein Widerspruch zu seinem Namen ist. Wenn ich es recht erinnere, brachte er anfangs viel zu viele Godard-Filme heraus. In seinem Katalog stehen 162 Erstaufführungen 35 Reprisen gegenüber. Nun verdient er allerdings ein Heidengeld mit französischen Komödien, die zuweilen hier sogar besser laufen, beispielsweise »Paulette« und »Birnenkuchen mit Lavendel«.
Die einst alltägliche Verbindung mit der Filmgeschichte halten in Berlin nur noch wenige Kinos aufrecht, darunter Arsenal, Zeughauskino und Babylon. Das ist nicht nur in Frankreich ganz anders, wo praktisch in jeder Woche ein, zwei Reprisen herauskommen, denen in der Presse mitunter so viel Platz eingeräumt wird wie aktuellen Filmstarts. Auch in Großbritannien finden regelmäßig Wiederaufführungen statt, in den letzten Wochen zum Beispiel »Napoleon« von Abel Gance und »In der Hitze der Nacht« mit Sidney Poitier. Dass sich damit gutes Geld verdienen lässt, entdeckte das British Film Institute vor einigen Jahren mit »Der Dritte Mann« und »Casablanca«.
Der Film aber, um den es an dieser Stelle geht, ist streng genommen keine Reprise. Dennoch bietet er einen willkommenen Anlass, da er gleich zweifach in die Vergangenheit führt. Es handelt sich um den tschechoslowakischen Klassiker »Marketa Lazarová«, der dank einer mutigen Initiative von Drop-out Cinema und Bildstörung ab heute mit gut 50 Jahren Verspätung erstmals in Deutschland anläuft. Er ist ein Solitär in der Geschichte dieser hochmögenden, traditionsreichen Kinematografie. Nicht nur sein Budget und die zweijährige Drehzeit sprengten seinerzeit jeden Rahmen. Während sich seine Zeitgenossen Milos Forman, Jiri Menzel und Ivan Passer satirisch mit Gegenwart und jüngerer Geschichte auseinandersetzen, schleuderte Frantisek Vlácil 1967 die Zuschauer geradewegs ins 13. Jahrhundert.
Seine fiebrige Vision des Mittelalters ist eine Zeitreise, bei der die Vergangenheit lebhaft gegenwärtig wird. Drei gegnerische Seiten, zwei böhmische Familienclans und eine Truppe sächsischer Ordensritter, bekämpfen sich aufs Blut. Im Zentrum der Metzeleien steht als unschuldiges Opfer die Titelheldin Marketa, deren Vater sie ins Kloster geben will, die dann aber geraubt und geschändet wird. Vlacil erzählt dies als erbitterte Konfrontation zwischen heidnischen Bräuchen und christlicher Zivilisation. Bei ihm durchdringen sich die Gegensätze jedoch, wie etwa in der poetischen Liebesszene zwischen zwei Geschwistern, die in einem heidnischen Paradies inklusive biblischer Schlange spielt.
Vlácils Idole waren Bergman, Bresson und Bunuel, was eine hübsche Alliteration ergibt, aber niemanden davon abhalten muss, auch an Kurosawas und Tarkowskys Schwarzweiß-Epen aus den 60ern zu denken. Sein Film entfesselt einen eigenen sinnlichen Furor. Die Natur ist gleichermaßen Metapher wie wuchtiger Schauwert. Die Komposition der Cinemascope-Tableaus schafft eine ungeheure Spannung zwischen unmittelbarer Nähe und Tiefe des Bildes; brüsk wechseln Perspektiven und Zeitebenen. Damals verstörte »Marketa Lazarová« das Publikum, drei Jahrzehnte später wurde er zum besten tschechischen Film aller Zeiten gekürt. Eine erstaunliche Entscheidung, wenn man bedenkt, dass das dieses Kino in der Tauwetterperiode vor dem Prager Frühling weltweit mit ganz anderen Themen Furore machte. Vlácil kam übrigens nicht von der berühmten Prager Filmhochschule FAMU, sondern brachte sich das Filmemachen selbst bei. Auch das klingt wie eine Nachricht aus längst vergangenen Zeiten.
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