Ohne Grund reitet kein Mensch
Vor einigen Wochen schickte mir ein befreundeter Redakteur eine Mail, auf die ich weniger begeistert reagierte, als ich es eigentlich hätte sollen. Mein Freund wies mich darauf hin, dass sich am Ende des Monats der Geburtstag von Budd Boetticher zum 100. Mal jährt. Er fand, das sei doch ein schönes Thema für meinen Blog.
Meine erste Reaktion war ein Abwehrreflex: Der sei ohnehin schon viel zu nostalgisch. Wem sollte der Regisseur heutzutage noch etwas bedeuten, abgesehen von einem kleinen, verschworenen Kreis rückwärtsgewandter Westernfans? Das Genre wird an der Börse der Filmgeschichtsschreibung ja nicht mehr ganz so hoch notiert. Boetticher gehört einer verwehten Folklore an. Mit ihm lässt sich nicht mehr viel Staat machen. Kritiker, die sich heute profilieren wollen, messen sich an aussichtsreicheren Themen.
Seine Arbeiten erlauben es dem heutigen Betrachter nicht, sich über das Genre zu erheben. Das ist beispielsweise bei Douglas Sirk ganz anders, dessen Melodramen man einen doppelten Boden brechtscher Ironie unterstellen darf – die seinem Werk mittlerweile aber eine doch etwas schal gewordene Meta-Attraktivität verleihen. Boettichers Western hingegen erfüllen die Konventionen (stärker noch als die seiner Zeitgenossen Delmer Daves und Anthony Mann); sie reduzieren das Genre auf seine karge Essenz. Wie genügsam sie allein schon beginnen: mit der Ankunft eines einsamen Reiters in einer Landschaft, für die fast immer Lone Pine die vielgestaltig raue Kulisse bietet. Ihre deutschen Verleihtitel legen nahe, dass es ihnen an Trennschärfe zu den Standarderzeugnissen der Epoche fehlt: »Einer gibt nicht auf«, »Sein Colt war schneller« etc. André Bazin pries »Der Siebente ist dran«, den Auftakt seines Filmzyklus' mit Randolph Scott, als »exemplarischen Western«. Das ist heute vielleicht keine Empfehlung mehr, zumal sich die Rituale in Boettichers Filmen mit einem anderen, zweifelhaften Spielfeld des Machismo verbinden, seiner Begeisterung für den Stierkampf.
Als seine großen B-Pictures Ende der 50er herauskamen, haben die Zuschauer vermutlich schon gemerkt, dass sie anders waren. Wahrscheinlich haben sie sich bei ihnen auch besser unterhalten. Später brachten sie den dritten Fernsehprogrammen zuverlässig gute Quoten. Vor ihrer Abwicklung hätte sich die WDR-Filmredaktion die Gelegenheit bestimmt nicht entgehen lassen, seinen 100. gebührlich zu feiern. Aber wohin ich auch schaute an diesem Wochenende, weder hier noch sonstwo in Europa oder in den USA wurde von dem Geburtstag Notiz genommen. Der Einzige, der sich an ihn erinnerte, war Michael Omasta aus Wien. Es ist müßig, dieses Erlöschen der Aufmerksamkeit zu beklagen. Man kann sich schließlich an das Pathos seines Films über den Stierkämpfer Carlos Arruza halten: »No one is really dead until the last man who remembers him is dead.«
Neben der Frage, was sie uns heute zu sagen hätten, werfen seine Filme eine noch interessantere auf: die der Überlieferung. Zu Lebzeiten (er starb 2001 mit 85 Jahren) stellte er eine vitale Verbindung zum alten Studiosystem Hollywoods dar. Offenkundig strotzte er auch als rüstiger Veteran noch vor Selbstbewusstsein. Er hielt spöttische Distanz zu dem, was Kritiker über ihn schrieben – besonders seine französischen Exegeten amüsierten ihn, die alles haarklein analysierten, aber nach seiner Ansicht nichts verstünden. Jahrzehnte, nachdem er sich durch sein Herzensprojekt über Arruza in Hollywood ins Abseits katapultiert hatte, umgab ihn das Flair eines unterschätzten, eigensinnigen Maverick. Festivals und Kinematheken konnten sich darauf verlassen, dass er als charismatischer Gast, als munterer und bissiger Geschichtenerzähler auftreten würde. Die Viennale widmete ihm beispielsweise 1995 eine große Retrospektive. Michi Omasta hat ihn bei dieser Gelegenheit bestimmt noch persönlich erlebt. Er wird einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen haben.
Im Nachhinein bedauere ich selbstredend mein kleinliches Zögern. In meiner Unschlüssigkeit wusste ich mir jedoch einen guten Rat: Ich schaute mir einfach ein paar seiner Filme an. Einige kannte ich zuvor nicht, darunter den Kriegsfilm »Red Ball Express«/»Unternehmen Rote Teufel« über eine Nachschubkompanie von General Patton, in der es um das Entstehen von Gemeinschaftssinn geht und der 1952 das Alleinstellungsmerkmal hatte, den Vorspann erst am Ende zu zeigen. Auch den Randoplh-Scott-Zyklus kannte ich nicht komplett. Die geschlossenen Lücken hielten schöne Überraschungen für mich bereit. Danach war dann kein Halten mehr (weshalb dieser Eintrag auch so spät fertig wurde), ich sah mir alle noch einmal an, mit jenem Vergnügen an, das nur die serielle Form bereiten kann: das Entdecken von Variationen und Konstanten, das Gefühl, einen einzigen Film zu sehen, bei dem eine Episode in die nächste übergeht. Ich war erstaunt, wie sehr sie Howard Hawks' Kino strukturell verwandt sind – sie nehmen entweder die Form der Odyssee oder des Eingeschlossenseins an – und wie sie ihm auch in ihrer entspannten, aufgeräumten Erzählhaltung ähneln. Ich nahm eine Stimmung aus den Filmen mit, die mich noch nicht verlassen hat: die Freude am Stil.
Ich hatte auch vergessen, wie humorvoll sie sind. »Buchanan rides alone« (Sein Colt war schneller) ist ein zutiefst heiterer Film über das Fortleben zweier Todgeweihter und zugleich eine kuriose Sittenkomödie, fast eine Politsatire um Korruption, Taktieren und Xenophobie. Boettichers Begriff von Zivilisation ist so skeptisch wie der von Rousseau (den er bestimmt nicht gelesen, aber zweifellos verstanden hätte). Zur Barbarei ist es nur ein kleiner Schritt bei ihm. Aber die Drehbücher, die meist Burt Kennedy für ihn geschrieben hat, haben einen klaren, keineswegs nur spöttischen Blick für die Grade an Bildung, in denen sich Scott von seinem Umfeld unterscheidet. Die Bösewichte und ihre Sidekicks gewinnen auch in dem Maße Kontur, in der sie des Lesens oder Schreibens fähig sind. Dummheit ist nicht nur Schicksal. Man sollte nicht unterschätzen, wie eminent es darum geht, leben zu lernen.
Die Vergangenheit, die die Charaktere mit sich herumschleppen, die Erfahrung von Schuld und Verlust, ist meist die Triebfeder einer Rachsucht. »Ohne Grund reitet kein Mensch durch diese Gegend«; heißt es in »Ride Lonesome« (Auf eigene Faust). In ihrer Erfüllung hoffen sie, endlich Ruhe und Erlösung zu finden. Ihre Erfahrungen gestatten es ihnen aber auch, Empathie zu entwickeln. Selbst der garstige Richard Boone in »The Tall T« (Um Kopf und Kragen) ist zu Zärtlichkeit fähig. Nirgendwo sonst im Hollywoodkino verstehen erbitterte Widersacher einander mit einer solchen Gründlichkeit wie bei Boetticher. Ihre Schäbigkeit mag am Anstand des gelassenen Fatalisten Scott abprallen, aber ein Rest von Befleckung lässt sich aus seinem Ehrgefühl nie ganz tilgen.
Nicht nur Boettichers Galerie der Gegenspieler, mit denen Scott mulmige Partnerschaften eingehen muss ist großartig – man denke an das unverfrorene Körperspiel von Lee Marvin, an den unablässig bohrenden Blick von Boone. Auch bei den Nebenfiguren vertraut sich Boetticher dem eigentümlichen Temperament der Darsteller an, der ganz unneurotischen Exzentrik von L.Q. Jones in »Buchanan« oder der ahnungsvollen Naivität von Richard Rust in »Comanche Station« (Einer gibt nicht auf). Die erotische Spannung wiederum, die sich am puritanischen Charme Scotts entzündet, ist noch einmal ein ganz eigenes Feld. Keine Frau in Boettichers Filmen gleicht einer anderen. Sein Blick mag chauvinistisch wirken, aber er revidiert die Rollenbilder behände im Rahmen seiner Möglichkeiten. Auch sie haben ihre je eigene Geschichte. Scotts Geschichte handelt eigentlich immer davon, wie einem das Leben dazwischen kommt, und das gut so ist. Manchmal kann Boetticher ganz auf die Anbahnung einer Liebesbeziehung verzichten. Dann vermisst man sie nicht. Austauschbar scheinen seine Western nur auf den ersten Blick. Die Mustererkennung reicht nur bis zu einem Punkt. Das Gemeinsame ist ein Rätsel der Vielfalt. »If you can't see the difference«, sagt Richard Boone einmal in »The Tall T«, »I ain't gonna explain it to you.«
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