Faszinierende Ungleichzeitigkeit
In letzter Zeit ertappe ich mich gelegentlich dabei, dass ich an der Nouvelle Vague zweifle. Ihre Bedeutung als Drehmoment der Filmgeschichte ist unbestritten. Aber ich frage mich, ob ihr Einfluss wirklich so überwältigend war, wie man gemeinhin annimmt. Gewiss, der französische, deutsche und amerikanische Autorenfilm hätten sich ohne sie völlig anders entwickelt. Beispielsweise das britische und italienische Kino hatten jedoch ihre eigenen Erneurungsbewegungen, die gesellschaftliche Realitäten stärker in Betracht zogen als das cinéphile Aufbrausen in Frankreich.
Zwei Reihen, die im September im Österreichischen Filmmuseum laufen, könnten meine Zweifel zerstreuen. Im Rahmen ihres Projektes »Kino-Atlas« erkunden Hannes Brühwiler und Lukas Foerster diesmal die Schwabinger Filmszene der 60er Jahre. Sie beweisen ja stets ein großes Gespür im Auffinden oder Wiederentdecken filmischer Biotope, die die landläufige Kartographie des Kinos ergänzen. Fraglos haben sich Klaus Lemke, Rudolph Thome, Max Zihlmann & Co von dem Elan anstecken lassen, der da aus Frankreich hinüberschwappte. Im Fall der zweiten Reihe scheint mir die Einflussnahme nicht so eindeutig. Es handelt sich um »Wahl der Waffen«, die Fortsetzung der großen Schau über den französischen Kriminalfilm. Vor einem Jahr liefen Polars aus den ersten drei Tonfilmjahrzehnten, der zweite Zyklus setzt 1958 ein. Für diesen Zeitpunkt postuliert das Programmheft einen »Innovationsschub durch die Nouvelle Vague«, der den Krimi »aus seiner klassischen Periode in die Moderne geschleudert« hat. Nun führe ich selbst den Begriff »Moderne« gern im Mund, bisweilen wahrscheinlich auch ohne Bedacht. Ob die Neue Welle tatsächlich das Antlitz des Genres unwiderruflich verändert hat, scheint mir der Frage höchst würdig. Ich glaube nicht, dass damals eine vollständige Wachablösung stattfand, zumal einige der Filmemacher, deren Arbeiten laufen, damals noch auf traditionelle Weise, als Assistenten oder Drehbuchautoren, zur Regie kamen. Auch an diesem neuralgischen Punkt der Filmgeschichte gilt es, faszinierende und ernüchternde Ungleichzeitigkeiten auszuhalten.
In der Tat wandelt sich das Genre zu Beginn der Fünften Republik nachhaltig. In seiner »klassischen Phase« ist der polar eine Art Übergenre, das (ähnlich der Komödie im italienischen Nachkriegsfilm) praktisch jede andere Gattung infiziert und ihr eine zusätzliche Fallhöhe verleiht. Es vermählt sich mit der Gesellschaftskomödie, dem Melodram, dem Kostümfilm, der Ehestudie, greift Motive der Liebeskomödie auf und spielt bisweilen gar zur Operette hinüber. Es ist ein Kino der sozialen Atmosphäre, erzählt wie nebenbei und ganz unweigerlich auch von gesellschaftlichen Verwerfungen. Die Filme von Jacques Becker, Julien Duvivier, Jean Renoir und anderen sind immer auch Milieustudien: Das Verbrechen lässt sich nicht nur am Rande der Gesellschaft verorten, sondern durchaus in seiner Mitte. Das Milieu verschwindet zusehends, nur bei Regisseuren, deren Karriere weitgehend abseits der Nouvelle Vague verläuft (Claude Sautet, Jean-Pierre Melville, Edouard Molinaro), sind noch Bruchstücke einer Gemeinschaft präsent. Dass sich später der Fokus vom Gangster auf den Polizisten verlagert, ist kein Widerspruch: Beide sind Figuren der Einsamkeit. Im Vergleich zur klassischen Periode lässt sich auch ein sachter Verlust an Zeitgenossenschaft feststellen. Dass diese nicht gleichbedeutend mit Moderne sein muss, führen die Filme Melvilles vor, die in einer streng ritualisierten Parallelgesellschaft spielen.
Mit Ausnahme des agilen Grenzgängers Jean-Paul Belmondo haben die großen Stars des Genres keine Berührungspunkte mit der Nouvelle Vague. Alain Delon wird berühmt durch »Nur die Sonne war Zeuge«, bei dem René Clément Regie führt, der bei den vormaligen Kritikern der »Cahiers du Cinéma« keinen guten Stich hatte, weil er der stickigen, viel gescholtenen »Tradition der Qualität« angehörte. Auch Lino Ventura stammt noch aus dem alten Kino. Von Sautets »Der Panther wird gehetzt« (der bei seinem Start 1960 noch völlig von Godards »Außer Atem« überschattet wurde, sich heute aber als die weit vielschichtigere Genrearbeit entdecken lässt) an wird er zu einem Helden des Rückzugs.
Auch auf dem Feld der Filmmusik brauchte es nicht erst der Erweckung durch die Neue Welle, damit das Genre zu einem modernen Idiom findet: Der Jazz war schon vor »Fahrstuhl zum Schafott« ein Ferment des Atmosphärischen. Ein wichtiger Impulsgeber ist die Bewegung freilich in der Hinwendung zu amerikanischen Vorlagen. Die Nouvelle Vague rezipiert literarische und filmische Muster und stülpt sie nonchalant um. Darin wirkt sie nach bis in die Filme von Bertrand Tavernier, Alain Corneau und Jacques Audiard. Ein brillantes Beispiel für diese transatlantischen Tauschgeschäfte ist »Brutale Schatten« von Jacques Deray, in dem es Jean-Louis Trintignant als Auftragskiller an wunderbar ungeläufige Schauplätze in ein Los Angeles verschlägt. Die US-Besetzung ist grandios: Angie Dickinson, Ann-Margret und Roy Scheider.
Die Schau des Filmmuseums zeichnet die Verlaufslinien des Genres bis 2009 nach. Die Filmauswahl ist repräsentativ bis fabelhaft. Sie findet auch Platz für merkwürdige Solitäre wie Georges Franjus Remake von »Judex«; dass José Giovanni nur als Stofflieferant auftaucht, ist zu verschmerzen. Sie reflektiert auch präzise, welch starkes Faszinosum der französische Kriminalfilm für deutsche Betrachter darstellt. Er ist ein Terrain der Sehnsucht: Im Nachbarland existieren die industriellen und erzählerischen Strukturen (nicht zu vergessen: das Starsystem), die eine derart stolze Genrekultur hervorbringen können. Nicht von ungefähr führt Dominik Graf in Wien einige der Filme ein. Diese Faszination spiegelt sich auch in zwei Buchpublikationen wieder, auf die ich verweisen möchte: Hans Gerholds grundlegende, kenntnis- und assoziationsreiche Studie »Kino der Blicke« von 1989 (ist antiquarisch mühelos greifbar) sowie die Anthologie »Polar- Französischer Kriminalfilm«, die 2012 bei Bender erschienen ist und einige kluge, einige weniger kluge und einige zu kluge Aufsätze enthält.
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