Eine Kapriole

»Die verborgene Festung – The Hidden Fortress« (1958)

Wenn man Pariser Kinoprogramme nach Genres durchforstet, erzielt man unter der Kategorie comédie dramatique die meisten Treffer. Mit unserer Tragikomödie ist sie nur unzureichend übersetzt. Sie stellt ein heftigeres Ausschlagen des Gefühlspendels in Aussicht, eine größere Fallhöhe.. Der französische Begriff hingegen eröffnet Zwischenräume für die Ironie.

Die Ereignisse, von denen ich heute berichten möchte, wären in Berlin zwar wohl nicht tragischer verlaufen, als sie es in Paris taten. Dem Genius des Ortes hat diese kleine Komödie voller dramatischer Wendungen gleichwohl viel zu verdanken. Sie hat den Vorzug, ganz und gar unerheblich zu sein. Allerdings ist sie mit Toshiro Mifune und George Lucas hochkarätig besetzt. Tragende Rollen spielten weiterhin ein Balkon im fünften Stock, ein zunächst lauer Aprilnachmittag, ein Notizblatt, die Pariser Müllabfuhr sowie eine Packung mit Ohrstöpseln. Und ich möchte behaupten, dass sie dies recht überzeugend taten. Hinzuerfunden, das kann ich versichern, ist in dieser Geschichte jedenfalls nichts.

Sie beginnt damit, dass ich wieder einmal etwas spät dran war mit einem Artikel. Ich hatte die dankbare Aufgabe, über Akira Kurosawas »Die verborgene Festung« zu schreiben, der in Zürich als Reprise läuft. Ohne diesen wenig bekannten, wenngleich fabelhaften Abenteuerfilm wäre die Filmgeschichte anders verlaufen: Er war eine entscheidende Inspirationsquelle für »Krieg der Sterne«. George Lucas gefiel vor allem die Idee, die heroische Handlung durch die Perspektive zweier kläglicher Nebenfiguren zu brechen, zweier Bauern, die unweigerlich von der eigenen Habgier und vom Pech übertölpelt werden. Aus ihnen wurden dann 3CPO und R2D2. Kurosawas Film spielt in den Wirren der japanischen Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts. Im Zentrum stehen eine eigensinnige Prinzessin und ihr Goldschatz, die ein treu ergebener General (Toshiro Mifune spielt ihn mit grimmiger Selbstironie) unentdeckt durch feindliche Linien schleusen muss. Der Abenteuerfilm spielt hinüber in die Gattung des Schelmenromans und steckt voller Fügungen, die der munteren Zufallslogik des Märchens folgen. Das Glück scheint die Helden immer wieder im Stich zu lassen, ihr Goldschatz droht regelmäßig verloren zu gehen, um dann doch zielstrebig zu ihnen zurückzufinden.

Natürlich hätte ich den Text schon daheim in Angriff nehmen können, aber aus unerfindlichen Gründen entzog sich mir der eigentlich überaus zugängliche Film. So also nahm ich die Arbeit mit nach Paris, wo ich an und für sich schon genug zu tun hatte. Aber was wäre dieser Beruf ohne einen Hauch von Abenteuerlust und Schuldgefühl? An diesem Morgen hatte es noch geregnet, aber nachmittags schien endlich die Sonne und lud mich ein, mit zwei unverzichtbaren Requisiten, meinem Schreibzeug und einer Zigarre, auf dem Balkon Platz zu nehmen. Dieses luftige Ritual ist einerseits der Rücksicht gegenüber meinem Gastgeber Binh geschuldet, einem Nichtraucher, und zugleich einer heftigen Höhenangst abgetrotzt. In der Regel versetzt es mich jedoch zuverlässig in eine Stimmung mulmiger Entspannung. Aber an diesem Nachmittag wollte mir partout kein Auftakt einfallen. Sollte ich mit den genialen Wischblenden des Films beginnen oder den prächtigen Unter- und Aufsichten im Scope-Format? Zu verstiegen, zu cinéphil für eine Tageszeitung. Oder mit dem Hinweis auf die prominente Nachkommenschaft des Films? Nicht besonders originell und zu uneigentlich. 

Ich wurde jäh aus diesen fruchtlosen Grübeleien gerissen, als ein Windstoß meinen Notizzettel erfasste und dreist fortwehte. Mannhaft gelang es mir, meine Phobie zu überwinden und über die Brüstung zu schauen. Der unselige Flugkörper war nirgends zu sehen. Ich war viel zu verdutzt, um über zu fluchen. Vielmehr brach ich in homerisches Gelächter über so viel Tücke aus. Mein Aufruhr rief Binh auf den Plan, der, wie der Zufall es wollte, sich im Nebenzimmer eine comédie dramatique anschaute, »Cyrano de Bergerac« von Jean-Paul Rappenau. Auch er konnte in der Straßenschlucht keine Spur von meinen Notizen entdecken, erspähte allerdings mit Schrecken einen Wagen der Müllabfuhr, der sich just in diesem Augenblick näherte. Nun war keine Zeit zu verlieren. Ich hetzte die Treppen herab – den Fahrstuhl zu nehmen, vertrug sich nicht mit meiner Hast – und musste unten feststellen, dass der Wagen bereits vor unserer Haustür angelangt war. Die Müllmänner, die gerade schwungvoll einen Eimer im Schlund ihres Fahrzeuges entleerten, blickten mich entgeistert an, als ich nach dem Verbleib eines einzelnen Blattes fragte. Von ihnen war kein Verständnis für meine Notlage zu erhoffen. Resolut hielten sie mich zurück, als ich den Inhalt ihres Fahrzeugs durchstöbern wollte. Das wäre ohnehin aussichtslos gewesen, denn wie Mifune einmal in »Die verborgene Festung« sagt: Nirgendwo verbirgt sich ein Stein so gut wie unter lauter anderen Steinen.

Ich rannte die Straße rauf und runter, inspizierte beide Bürgersteige und schaute unter jedem geparkten Auto nach. Allein, meine Notizen waren unauffindbar. Binh winkte bedauernd ab, auch er hatte von seinem Posten aus nichts entdecken können. »Du hast das doch bestimmt alles im Kopf,« beschwichtigte er mich bei meiner Rückkehr. Er scheint größeres Vertrauen Zutrauen in mein Gedächtnis zu haben als ich. Hätte ich den Artikel doch nur schon vor meiner Abreise geschrieben! Nun hielt ich hastig fest, was mir von den Filmnotizen noch in Erinnerung geblieben war. Aber selbst der Rest meiner Zigarre half meiner Konzentration nicht auf die Sprünge. Andererseits, dachte ich, kann es bisweilen ja auch von Vorteil sein, ganz frisch anzufangen. Als nach einer halben Stunde dann noch Handwerkerlärm aus Nachbarwohnung drang, schmiss ich alles hin. Höchste Zeit, mir eine Packung »Boules Quies« zu besorgen, jene famosen Ohrstöpsel aus Wachs, die mir vor Jahren einmal der Filmkomponist Philippe Sarde empfohlen hatte. Ich wusste, in der Apotheke an der Ecke würde ich sie nicht bekommen. Die störrische Besitzerin bestand immer darauf, mir eine andere Marke zu verkaufen. Also schlug ich die Gegenrichtung ein; bei einem kleinen Spaziergang würde ich vielleicht auf andere Gedanken kommen. Es könnte auch nicht schaden, noch mal Ausschau zu halten nach meinen desertierten Notizen. Hatte mich das Ende von Kurosawas Film nicht gelehrt, dass selbst Pechvögel mitunter Anlass haben, zuversichtlich zu sein?

Ich war kaum zwanzig Meter gegangen, als ich meinen Notizzettel auf dem Bürgersteig erblickte. Eben hatte er dort noch nicht gelegen. Nun wartete er ganz unbekümmert auf mich, als sei nichts geschehen. Hatte ihn eine neuerliche, diesmal reuige Laune des Windes dorthin gefegt? Mit diebischer Genugtuung hob ich das Papier auf und steckte es rasch ein, bevor es sich wieder aus dem Staub machen konnte. Beschwingt steuerte ich auf eine freundlichere Apotheke zu, in der die Kunden Schlange standen. Ich holte mein Blatt hervor und begann neugierig, die Kritzeleien zu entziffern. Ganz am Ende stieß ich auf etwas, an das ich mich zuvor in der Eile nicht mehr erinnert hatte: In der Filmmusik ist ein Saxofon zu hören. Ein solches Instrument in einem Samurai-Film? Wenn das nicht der richtige Anfang für meinen Artikel war!

Stolz präsentierte ich bei der Rückkehr meinen Fund. Binh war gerade bei der Sterbeszene Cyranos angelangt, einem Moment, der ihn immer ziemlich mitnimmt. Seine Miene hellte sich augenblicklich auf, als er von meinem Glück erfuhr. »Zur Apotheke hättest Du gar nicht gehen müssen,« eröffnete er mir. »Ich habe Ohrstöpsel genug.« Nein, nein, erwiderte ich, das war schon genau richtig so. Unterdessen war es Zeit geworden, einen Apéritif zu nehmen und das Abendessen vorzubereiten. Bei einem sehr trockenen Martini kam uns in den Sinn, wie schön es sich gefügt hatte, dass wir uns an diesem Nachmittag mit Filmen beschäftigen durften, in denen das Heroische und das Lächerliche jeweils ein prächtiges Bündnis eingingen. Mein Artikel konnte warten. Er musste erst am nächsten Morgen fertig werden.

Meinung zum Thema

Kommentare

luftig wie der beginn eines films von alain resnais (aus der spätphase des regisseurs).

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