Die klare Linie

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Als ich das letzte Mal auf dem Brüsseler Flughafen war, vergaß ich, mein Gepäck aufzugeben. Ich musste beim Betreten der Abflughalle wohl in Gedanken gewesen sein, mich in Träumereien verloren haben. Während ich arglos mit der schweren Reisetasche auf den Flugsteig zusteuerte, beschlich mich das vage Gefühl einer Pflichtvergessenheit.

Worin diese bestehen könnte, kam mir partout nicht in den Sinn, bis mich das Personal beim Einchecken auf meine Zerstreutheit hinwies. Das Problem war rasch aus der Welt geschafft; die Tasche wurde kurzerhand als übergroßes Handgepäck deklariert. Ein Sicherheitsrisiko stellten weder sie noch ich dar. So kann es einem mitunter in Brüssel ergehen: Das Leben, der Alltag verlaufen eine Spur entspannter als beispielsweise in Paris. Selten drängt die Stadt den Besucher zur Eile. Die meisten Wege lassen sich, zumal im Zentrum, gut zu Fuß bewältigen. Die Altstadt lässt sich von den Touristenströmen nicht beirren. Selbst das Europaviertel wirkt nicht einschüchternd geschäftig. Und der merkwürdig protzige Justizpalast ist schon seit Jahrzehnten eingerüstet, ohne dass ein Ende der Renovierungsarbeiten anzusehen wäre. Die kunstfertigen Hervorbringungen der Stadt, etwa die Jugendstilfassaden und Pralinen, vertragen sich nicht mit Hast. 

Als eine Großstadt wollte mir Brüssel ohnehin nie recht erscheinen. Sie dürfte übrigens die einzige sein, die nicht an einem Fluss liegt (es gab mal einen, der wurde jedoch überbaut und existiert vielleicht noch als Kanal.) Für einige Jahre reiste ich häufig dorthin, am liebsten mit dem Zug, heute kommt es seltener vor. Ich hatte das Glück, in einer Wohnung in zentraler Lage unterzukommen. Die Altstadt, die Museen um den Königspalast herum und auch das Europaviertel liegen jeweils nur einen Katzensprung entfernt. In der Station Maelbeek stieg ich oft in die Metro oder kam an ihr vorbei auf dem Weg zur Place Jourdan, wo ich mir bei »Antoine« Pommes Frites holte, zu denen ich stets neue Saucen ausprobierte und die ich dann im Parc Leopold verspeiste. Er ist eine der vielen Oasen der Ruhe, die ich in Brüssel entdeckte. Nach Schaerbeek wiederum unternahmen wir gelegentlich Spaziergänge, weil dort Freunde wohnen. In dem Viertel ließ es sich beschaulich leben. Beim Besuch von Cafés oder Geschäften, die von Migranten aus dem Maghreb geführt wurden, lernte ich, dass es gut ist, sich immer zuerst nach dem Befinden der Familie zu erkundigen. Selten nur erlebte ich Ausgrenzung und Rassismus; wenn, dann richteten sie sich vornehmlich gegen bettelnde Roma. Vom Stadtteil Molenbeek habe ich zum ersten Mal nach den Pariser Anschlägen im November gehört.

Mit einigen Freunden bin ich nach wie vor in engem Kontakt. Sie alle sind wohlauf, haben teilweise die furchtbaren letzten Tage allerdings auch nicht in Brüssel verbracht. Ein befreundetes Paar musste seinen Rückflug nach Amsterdam umbuchen, da der Flughafen bis Freitag geschlossen ist. Mithin konnten sie mir wenig über die Stimmung berichten, die augenblicklich dort herrscht. Andererseits braucht es auch nicht viel Phantasie sich vorzustellen, was in den Bewohnern vorgeht.

Die Belgier verfügen freilich über eine höchst anschauliche und flinke Kunstform, um sich ein Bild von der Welt zu machen. Brüssel ist eine Hochburg der Bande dessinée, des Comic. Bei meinen Besuchen dort habe ich die franko-belgische Schule wieder neu schätzen gelernt und entdeckt, dass dortige Künstler an ihr eigentlich noch größeren Anteil haben als ihre französischen Kollegen. Auf die entsetzlichen Geschehnisse vom letzten Dienstag haben einige von ihnen augenblicklich reagiert, durchaus in franko-belgischer Eintracht. Die Zeichnung von Plantu in der gestrigen Ausgabe von »Le Monde« gab den Auftakt: Mit wenigen Strichen verleiht sie der Solidarität Ausdruck, die Frankreich mit dem Nachbarland demonstriert: nur zwei weinende Figuren, die in ihre Landesfarben gehüllt sind. In »Le Figaro« fand ich heute morgen eine Bildergalerie, die mir ebenso unter die Haut ging. Die berühmten Helden sind in Trauer, Lucky Luke, Gaston Lagaffe, Spirou und die Schlümpfe sind in Tränen aufgelöst. Am meisten hat mich eine Zeichnung von Chaunu mitgenommen, auf der Struppi den ermordeten Tim beweint, der von der belgischen Flagge bedeckt ist. Geluck, dessen Kater ein unfehlbarer Seismograph für belgische Befindlichkeiten ist, zeigt seinen Helden, wie er seine Familie umarmt, die in den Nationalfarben gekleidet ist. Nicht alle Karikaturen gefallen mir: Chaunu hat auch eine Pressekonferenz von Tims unbeholfenen Kumpanen Schultz&Schultze gezeichnet, die Frankreich und Belgien verkörpern und sich wie immer einig sind. Dies Bild erscheint mir wie ein Misston, weil es mit einem Hauch von Ironie operiert. Auch auf den Anblick von Kapitän Haddock, der wutentbrannt Araber jagt, hätte ich gern verzichtet. Das Medium sollte zwar auch Ausdruck von Zorn und Wehrhaftigkeit sein. Aber es geniert mich etwas, dass sie den Zeichnern so rasch aus der Feder kommen. Genügt es in diesen Tagen nicht, sich der Trauer zu stellen? An anderer Stelle fand ich die Karikatur eines Designers namens Carlos Benites, in der das Manneken Pis seinen Strahl auf eine Bombe richtet. Das ist sehr touristisch gedacht, greift aber ein Symbol auf, das auch unserem Gefühl der Verletzbarkeit Rechnung trägt.

Die ligne claire, der Stil der klaren Linienführung, den die franko-belgischen Zeichner so unvergleichlich beherrschen, ist ein Mittel der Reduktion und Vereinfachung. Die klare Linie wirkt trügerisch simpel. Zögern scheint ihr fremd. Tatsächlich spricht sie das Kindliche im Betrachter an, die Sehnsucht nach eindeutigen Konturen. Sie zielt auf etwas Ursprüngliches, mutet treuherzig an. Politik lässt sich nicht mit ihr machen, aber Unschuld sich hervorragend mit ihr darstellen. Sie ist eine universelle Sprache, aber in diesen Tagen wird die Welt durch sie nicht leichter verständlich. Die Karikaturen können erhellen, nicht erklären. Darin liegt im Moment vielleicht ihre Würde: stumm zu sein.

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