Die Karten werden neu gemischt
Mit dem Beginn des Festivals von Cannes fiel eine Meldung zusammen, die aufhorchen lässt. Amazon übernimmt den Vertrieb von Mike Leighs neuem Film in den USA. Er handelt vom so genannten Peterloo-Massaker (es fand vier Jahre nach der Schlacht von Waterloo statt), einer Demonstration für eine Parlamentsreform in Manchester, die vom Militär relativ blutig niedergeschlagen wurde.
Ich vermute, einem Gutteil von Leighs Landsleuten erging es wie mir – sie hatten bis zur Ankündigung des Projektes noch nie von diesem Ereignis gehört. Dass er einen Film darüber drehen will, ist für mich wie einen Gutteil seiner Landsleute natürlich ein unabweisbares Indiz für dessen historische Relevanz. Dass sich Amazon für diese regional verwurzelte Geschichte interessiert, ist staunenswert. Gewiss war der Name des Regisseurs für die Entscheidung des Konzerns aus Seattle ausschlaggebend. Aber ein so großes Markenzeichen ist er in den USA nun auch wieder nicht; eher ein wohliger Gefühlswert an den Kassen der Arthouse-Kinos. Mithin erschien mir der Erwerb der Rechte zunächst vor allem als eine schöne, bewunderswerte Geste des Mäzenatentums.
Diese Einschätzung änderte sich ein wenig, als ich gestern in der Cannes-Beilage der Tageszeitung »Le Monde« einen ganzseitigen Artikel über das Portfolio von Amazon auf dem Festival las. Im Offiziellen Programm laufen fünf Produktionen des neu entstandenen Studios. Sein Pavillon verdrängt anscheind sogar Studio Canal von dessen angestammtem Standort. Eine solch massive Festival-Präsenz war bislang vor allem der erpresserischen Macht von Hollywood-Majors oder Weltvertrieben wie »Wild Bunch« (in Cannes stets sehr umtriebig; das Äquivalent für Berlin wäre »The Match Factory«) anzulasten, die einem Festival attraktive Filme nur dann geben, wenn es im Paket auch ein paar Ladenhüter mitnimmt. Die Amazon-Filme in Cannes scheinen jedoch ausnahmslos hochkarätig. Nach Woody Allens Eröffnungsfilm »Café Society« laufen neue Werke von Jim Jarmusch (sogar gleich zwei), Nicolas Winding Refn und Park Chan-wook.
Natürlich ist mir nicht entgangen, dass Amazon und sein Konkurrent Netflix ernste Ambitionen hegen, zu major players im Filmgeschäft zu werden. Sie wollen vom Ende der Verwertungskette zu dessen Anfang vorrücken. Und sie haben tiefe Taschen, wie man in Frankreich sagt. In Sundance und anderswo konnten sie sich die Spitzentitel sichern, weil sie unzüglich mehr boten als die traditionellen Studios (bzw. deren Arthouse-Sektionen) oder einschlägige Mini-Majors. Aber bislang erschien mir das Kino-Engagement der Streaming-Dienste noch so, als wolle man schon vor der Hochzeit in die Flitterwochen gehen. Längst jedoch sind aus der aufbrausenden Begeisterung für durchaus sperrige Autorenfilme nun Investitionen in Milliardenhöhe geworden. Netflix lässt für fiktionale Formate, also TV-Serien und Spielfilme, in diesem Jahr fünf Milliarden springen, Amazon immerhin drei. Um eine Vergleichsgröße zu nennen: Ein klassischer Konzern wie Time-Warner liegt mit viereinhalb dazwischen. Das sind Summen in den Dimensionen, die sich Griechenland als nächste Tranche von der EU erhofft.
Amazon geht es offenbar tatsächlich um eine Kinoauswertung, die ein lässliches Zeitfenster verstreichen lässt zur Zweitverwertung im Home Entertainment. Den amerikanischen Kinobesitzern wird das sympathischer sein als die Politik von Netflix, das seine Produktionen bislang als Video-on-Demand zeitgleich mit dem Kinostart herausbringt. In den klassischen Verwertungsstrukturen rechnet sich das nicht (wird es vielleicht auch nie): »Beasts of no Nation« beispielsweise spielte in US-Kinos nur einen fünfstelligen Betrag ein. Netflix scheint momentan vornehmlich daran gelegen, eine Konkurrenz für das lineare Fernsehen zu sein.
Das Zeitfenster zwischen Kino und Home Entertainment ist nach wie vor wichtig. In Deutschland kehrt es sich gerade um. Vor ein paar Tagen erhielt ich eine Email der Yorck-Kino-Gruppe, die in Berlin den Markt jenseits der Multiplexe dominiert. Sie fordert die Redaktionen auf, keine Kritiken zur bereits erschienen DVD von »The Lobster« mit Colin Farrell und Léa Seydoux zu veröffentlichen, der letztes Jahr in Cannes ein wenig Furore machte. Es wäre ihr lieber, sie würden mit ihren Rezensionen warten, bis sie den Film im Juni exklusiv in Berlin, Hamburg und München herausbringt. Dieser Vorstoß ist eine bemerkenswerte, riskante Initiative. Ob sie ein Menetekel für zukünftige Verleihstrategien ist, hängt allerdings auch von der Fußball-EM ab. Und dem Wetter, das uns der Sommer bescheren wird.
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