1600 Pennsylvania Avenue
Wenn ich auf die letzten Monate zurückblicke, erscheinen sie mir als eine Kaskade zumeist unerfreulicher Überraschungen. Vermutlich wird es Ihnen ähnlich ergangen sein: Wenn man am Morgen aufwachte, fand man sich in einer veränderten Welt wieder.
Abends war man noch mit der Gewissheit zu Bett gegangen, dass die Briten sich selbstverständlich gegen den Brexit entscheiden würden. Ein böses Erwachen bot auch der Morgen nach dem französischen Nationalfeiertag, als ein Fanatiker in Nizza den 14. Juli umgewidmet hatte in ein Massaker. Ebenso aus heiterem Himmel kam der Putschversuch in der Türkei, der sich als entscheidende Etappe auf dem Weg des Landes zu einer Diktatur erweisen sollte.
Morgen früh kann uns Ähnliches ins Haus stehen. Gerade schien Hillary Clintons Vorsprung noch uneinholbar, aber nun lässt jeder neue Blick auf die Nachrichten die Prognosen des Vortags zu Makulatur werden. Diese Ungewissheit scheint zwar weniger dem tatsächlichen Wählerwillen als vielmehr einer Dramaturgie geschuldet, bei der Wahlkampfstrategie und mediale Inszenierung zu einem hysterischen Gleichklang gefunden haben. Aber gleichviel: Das Rennen ist noch offen. Anlass genug für die politische Klasse in den USA, sich auf die Scham als einer wesentlichen menschlichen Regung zu besinnen.
Am Vortag eines womöglich neuerlich bösen Erwachens will ich mich einem wohltuend nachrangigen Aspekt des Wahlergebnisses widmen: der Frage, was für Filme in den nächsten vier Jahren wohl im Kino des Weißen Hauses laufen werden? Hillary Clintons Vorlieben beschäftigen dabei meine Phantasie erheblich weniger, was eindeutig für die Politikerin spricht. Ich vermute, sie hat einen aufgeräumten Filmgeschmack. Bestimmt sieht sie Meryl Streep lieber als Susan Sarandon. Vielleicht wird sie gar einen gewissen Überdruss verspüren, da ihr Ehemann das Kino in der Pennsylvania Avenue 1600 häufiger als jeder seiner Vorgänger besuchte: 171 Vorstellungen gab es dort während seiner zwei Amtszeiten.
Die Programmwünsche von Hillarys Gegenkandidat stelle ich mir bezeichnender vor. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich zum Abschluss eines vergnügten Herrenabends »Porky's« vorführen lässt. Falls der nicht verfügbar ist, täte es auch »9 ½ Wochen«. Seine Eitelkeit könnte ihn zur Wiederbesichtigung der rund 20 Filmauftritte verleiten, die er (meist als er selbst) absolvierte. Eher unwahrscheinlich, dass er sich noch für »Wer ist Mr. Cutty?« oder »Kevin – Allein in New York« interessiert; an Woody Allens »Celebrity« wird ihn wohl nur mehr der Titel faszinieren. Ich tippe auf seine erste Filmrolle in »Mein Geist will immer nur das Eine«, weil er da noch ein Vierteljahrhundert jünger war und Bo Derek prächtig in sein Beuteschema passt.
Der Filmgeschmack der Bewohner des Weißen Hauses ist traditionell eher selten ein politisches Bekenntnis. Jimmy Carter war da eine Ausnahme: Als Erstes sah er sich den Watergate-Film »Die Unbestechlichen« an; bestimmt nicht aus Schadenfreude, sondern aus Neugier, wie die Vierte Gewalt in einer Demokratie und im Kino wirken kann. Er war ohnehin einer der wenigen Präsidenten, die ihre Amtszeit nutzten, um sich ein Bild zu machen über die aktuellen Strömungen im US-Kino. Das New Hollywood war zu seiner Zeit hervorragend repräsentiert im First Cinema. Sein Vor-Vorgänger Richard Nixon wiederum hatte eine ausgesprochene Vorliebe für Horrorfilme.
Wie ein Gutteil der republikanischen Amtsinhaber neigte er aber auch zur Nostalgie. Natürlich sah er sich »Patton« an, aber mindestens ebenso gern »Yankee Doodle Dandy«, Capras »Ist das Leben nicht schön?« und »In 80 Tagen um die Welt«. Reagan immerhin schaute sich nicht nur »The Sound of Music« (»Meine Lieder, meine Träume«) an, der herauskam, als er zum Gouverneur von Kalifornien gewählt wurde, sondern auch Warren Beattys »Reds«, der ihn vielleicht daran erinnerte, dass er vor langer Zeit auch mal ein Mann der Linken gewesen war.
Kennedy bewies smarte Zeitgenossenschaft, als er sich »Liebesgrüße aus Moskau« vorführen ließ. Dies könnte der erste Fall gewesen sein, wo der präsidiale Segen tatsächlich zum Kassenerfolg eines Films beitrug. Obama hingegen wird eher wegen seiner Playlists und alljährlich proklamierten Ferienlektüre in die Geschichte der Populärkultur eingehen. Seine Filmvorlieben waren heterogen. Er mochte Animationsfilme (wie er und seine Entourage sich »Oben« mit 3-D-Brillen ansehen, könnte als ikonisches Bild durchgehen), betrachtete das Kino als erweitertes Terrain der affirmative action (»The Butler«, »The Help«, »Thurgood«), wollte in Krisenzeiten aber auch mal »High Noon« wiedersehen, der seit der Eisenhower-Ära nicht mehr an der Pennsylvania Avenue gelaufen war. Seinen Ausflug in die Teenager-Komödie, »Er steht einfach nicht auf dich«, muss man nicht als Ausdruck von Selbstzweifeln deuten.
Der erste Film, der je im Weißen Haus gezeigt wurde, war 1915 David Wark Griffith' »The Birth of a Nation«. Woodrow Wilson, der spätere Friedensnobelpreisträger und Mitbegründer des Völkerbundes, pries die Apologie der Sklaverei in höchsten Tönen: »It's like writing history with lightning. And my only regret is that it is all terribly true.« Für den Demokraten stellte dieses Lob keinen Widerspruch zu seinen humanistischen Wertvorstellungen dar, denn er stammte selbst aus dem Süden und sein Vater, ein presbyterianischer Pfarrer, lebte den Spagat vor, gleichzeitig Menschenfreund und Sklavenhalter zu sein.
Der Ku Klux Klan nutzte Griffith' Film bis in die 70er Jahre als Rekrutierungsvideo. Die halbherzigen Beschwichtigungen, mit denen der republikanische Kandidat sich von der illegitimen Miliz distanzierte (einer ihrer Anführer unterstützte ihn tatkräftig) war in einer frühen Phase des Wahlkampfs ein Reizthema, das mittlerweile von kapitaleren Skandalen überschattet wurde. Auch die notorischen Anstrengungen des Immobilienmagnaten, seine Liegenschaften von afro-amerikanischen Mieter freizuhalten, ist ein weitgehend verschüttetes Thema. Es ist schwer vorstellbar, dass dieser Mann die Geduld aufbrächte, sich einen dreieinhalbstündigen, schwarzweißen Stummfilm anzuschauen. (Griffith' viktorianisches Frauenbild wäre ihm auch viel zu sittsam.) Das ist auch gar nicht mehr nötig, denn »Birth of a Nation« hat bereits das brandstifterische Narrativ seines Wahlkampfes geliefert: das Kalkül mit Ressentiments und der Spaltung des Landes, das Beschwören retro-aktiver Ängste, die dreiste Leugnung historischer Wahrheiten. Hoffen wir, dass all dies vergeblich war und niemand ins Weiße Haus einziehen wird, der Geschichte mit einem Blitzstrahl schreiben will.
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