Weitblick
Seinem Namen nach müsste der Advent eine Zeit der Erwartung sein. Seit wann eigentlich ist er eine der Rückblicke geworden? War das schon so vor dem sentimentalen Ritual zu bester Fernsehsendezeit, bei dem gönnerhafte Moderatoren Leute befragen, deren Taten, Missgeschicke oder Leid angeblich herausragen aus der Chronik der letzten elf Monate? Möglicherweise schon, aber wer kann sich noch daran erinnern?
Auch Filmkritiker sind in dieser Zeit zum Jahresrückblick angehalten; beim Erstellen von Besten-Listen versage ich jedes Mal. Dabei neige ich stark zu Rückschau und Nostalgie. Umso mehr allerdings bewundere ich Menschen, die vorausschauen können. So las ich gerade in der »Los Angeles Times« einen Artikel, den die Filmredaktion aus aktuellem Anlass ausgegraben hatte: ein Interview mit George Lucas aus dem Jahr 1977. Ich fand es unter mindestens zwei Aspekten interessant. Erstens wurde es nach dem Start von »Star Wars« veröffentlicht, dessen für damalige Verhältnisse phänomenaler Erfolg sich bereits abzeichnete. Heutzutage, wo alle Welt auf das Startwochenende fixiert ist, wäre eine solche Geschichte ein alter Hut, den keine Redaktion mehr bringen würde. Zweitens beeindruckte mich eine Prognose des Regisseurs: Am Film würde er bestimmt gar nicht so viel verdienen, aber an den Spielzeugfiguren. Er besaß tatsächlich den Weitblick, auf einen Verwertungszweig, einen Markt zu vertrauen, den es zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht gab. Franchise waren seinerzeit in der Filmindustrie noch ein Fremdwort. Und er sollte Recht behalten (siehe meinen Eintrag »Nebenverdienst« vom 31. 1.) »Star Wars« hat mich nie sonderlich begeistert und ich fand es ziemlich großspurig, wie er damals schon von einer Saga sprach, die er angeblich akribisch geplant hätte. Auch damit sollte er ja Recht behalten. Damals fand ich es schade, dass er seine Regiekarriere an den Nagel hing (seine Version von »Apocalypse Now« hätte mir womöglich gar besser gefallen als die von Coppola), um ein Mogul zu werden, ein Pionier wie die geriebenen Geschäftsleute, die einst die Hollywoodstudios gründete. Aber mittlerweile gönne ich ihm seine Milliarden.
Ein weiterer Artikel weckte in den letzten Tagen meine Aufmerksamkeit: ein Interview, das Dunja Bialas mit der legendären Münchner Filmkritikerin Ponkie geführt hat. Auch darin geht es darum, wie man zukünftige Karrieren vorausahnt, namentlich die von Protagonisten des Neuen Deutschen Films. Noch spannender, vielleicht sogar einleuchtender fand ich die Perspektiven, die sich ihr im Nachhinein eröffneten: etwa ihre Einschätzung, Edgar Reitz sei schon mit jedem seiner Kinofilme zielstrebig auf »Heimat« zugesteuert. Auch ihre Vorbehalte gegenüber Dominik Grafs Laufbahn fand ich bemerkenswert: Er habe sein Thema noch nicht gefunden. Auch wenn ich die Meinung nicht vollends teile, frage ich mich, ob er nicht vielleicht nur sein Genre gefunden hat.
Auch dieses Fundstück im Netz passt zu dem Thema Aus- und Rückblick: Ein Bewohner von Tampa, Florida hat fotografiert, wie die Drehorte von Tim Burtons »Edward Scissorhands« heute aussehen. Da gibt's heute eine Menge Bäume, die Edward mit seinen Scherenhänden stutzen könnte. 25 Jahre soll der Film schon alt sein? Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen.
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