Hörkino 2

»La Haine«

Die Drehgenehmigung holten sie sich nicht im Rathaus, sondern von den Bewohnern ihres Drehortes. Deren Vertrauen mussten sie gewinnen. Der Segen der Behörden hingegen hätte ihrem Film weniger Glaubwürdigkeit verschafft. Beinahe hätte ich street credibility geschrieben, aber da es sich um einen französischen Film handelt, zögere ich. Obwohl er andererseits dem rüden Genrekino Hollywoods eine Menge verdankt.

An diesem 31. Mai gibt es einige Jahrestage, die man begehen könnte - beispielsweise den 70. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder oder den 85. von Clint Eastwood. Aber ich möchte 20 Jahre zurück blenden: Da startete in Frankreich »La Haine« (Hass) von Mathieu Kassovitz, der sich rasch zu einem enormen Kassenerfolg (mehr als zwei Millionen Zuschauer allein in Frankreich, ein Triumph bei der César-Verleihung) und einem gesellschaftlichen Phänomen entwickeln sollte. Das war ein Schock: So hatte wie hier hatte man die Pariser Vorstädte noch nicht gesehen – oder zumindest nicht das breite Publikum, das 1988 von Jean-Claude Brisseaus ruppigem Bildungsroman "Lärm und Wut" leider nur wenig Notiz genommen hatte. Premierminister Alain Juppé ließ sich Kassovitz' Film, dem die Polizisten bei der Premiere in Cannes noch verächtlich den Rücken zugekehrt hatten – aus berechtigtem Verdacht, er würde sie nicht im besten Licht zeigen -, in Elyséepalast vorführen. Man darf bezweifeln, ob der kühle Absolvent einer Eliteschule viel von ihm begriff, aber seine Bedeutung mochte er durchaus einschätzen.

Inspiriert wurde Kassovitz' Studie einer auseinanderbrechenden Gesellschaft von einem Ereignis, das zwei Jahre zurücklag: Im April 1993 hatte ein Polizist in der Pariser Banlieue einen 17jährigen, wehrlosen Verdächtigen durch einen Kopfschuss getötet. »Hass« mag ein wenig zu smart und zu stilisiert sein. Der sozialen Realität der Vorstädte kam er 1995 aber sehr nahe. Und dem Kino erschloss er ein fruchtbares Terrain. Jacque Doillon und Abdellatif Kechiche haben seither poetische Filme über die Reibung der Kulturen in der Bannmeile von Paris gedreht, Bertrand Taverniers Dokumentarfilm »Jenseits des Stadtrings« zeichnet ein einfühlsames, affirmatives Bild vom Leben in einer solchen Cité, in der Gemeinschaftssinn und Solidarität herrschen. Kassovitz selbst gab mit dem Film ein Versprechen aus, das er seither als Regisseur nicht mehr eingelöst hat - weshalb er womöglich letzthin immer öfter davon spricht, eine Fortsetzung zu drehen.

Dass sie ganz anders aussehen würde, ist das heimliche Thema eines britischen Radiofeatures, auf das ich vor ein paar Tagen stieß. (Sie wunderten sich bestimmt schon über den Titel dieses Eintrags.) Für BBC Radio 4 begab sich der Journalist Andrew Hussey auf Spurensuche nach dem Film und seinem Nachhall (Link). Er besucht den Drehort Chanteloup-les-Vignes, der in einer Stunde mit dem Vorortzug von Paris St.Lazare zu erreichen ist, befragt damals mitwirkende Bewohner, aber auch Kassovitz, den Standfotografen des Films sowie eine Filmwissenschaftlerin. Das ist ein rabiater Hörgenuss, dessen triftigen Auftakt Bob Marleys "Burning und Looting" bildet. Man bekommt viel davon mit, was an dem Film damals einzigartig war - vor allem aber, was er den Bewohnern der Cité damals und noch heute bedeutet. Hussey ordnet ihn ein in ein Klima der sozialen Spannungen und des Terrors (u.a. das Attentat auf die Metrostation St. Michel). Das Feature ist das, was man beim Militär eine "geballte Ladung" nennt, eine rissige Collage diverser Zündstoffe.

Mich berühren vor allem zwei Aspekte. Zum Einen, dass ein Brite dieses Thema aufgreift (ich habe nicht den Eindruck, dass in Frankreich das Jubiläum und sein Resonanzraum auf ähnliches Interesse gestoßen sind) und mit nobler Neugierde verfolgt. Das unterstreicht die weltweite Ausstrahlung des Films, die emblematische Wirkung, die er über das Hexagon Frankreichs hinaus hatte. Zugleich regt sich in Husseys atemloser Reportage eine befremdliche und absolut legitime Nostalgie. Die drei Protagonisten des Films sind ein Jude, ein Araber und ein Schwarzafrikaner. Heute wäre es kaum denkbar, dass sie noch Freunde wären. Drei Jahre später gewann Frankreich mit Vertretern dieser Ethnien noch eine Weltmeisterschaft. Als »Hass« in die Kinos kam, gab es noch keine Anzeichen eines sich radikalisierenden Islamismus an den sozialen Brennpunkten Frankreichs. Der brach sich erst gut ein Jahrzehnt später Bahn. Nach dem Pariser Anschlägen des vergangenen Januar erscheint die Welt von 1995 fast als ein Idyll. Ganz so arglos ist Husseys Perpsektive nicht. Aber er zeigt präzise auf, wo das utopische Potenzial des Films lag. In ihm steckte Hoffnung, er wies einen Weg, der nicht zwangsläufig in die Gewalt führt. Aber wie lautet der berühmteste Satz aus dem Film? Er spricht von einem Absturz, kurz vor dem Aufprall: "Bis hierher ging alles gut."

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