Cinéphilatelie

Sondermarken der Royal Mail in Großbritannien

Normalerweise verfolge ich nicht gerade aufmerksam, welche Sondermarken die Royal Mail in Großbritannien herausbringt. Die Ausbeute ist hier zu Lande ja schon enttäuschend genug. Aber eine Veröffentlichung erregte doch meine Neugierde: Am 13. Mai letzten Jahres erschien eine Serie von sechs Briefmarken, die Höhepunkte der britischen Filmgeschichte repräsentieren sollte. Zwar fand ich die Auswahl nicht wirklich zufriedenstellend. Über »A Matter of Life and Death« von Powell & Pressburger, »Lawrence of Arabia« und »Secrets and lies« freute ich mich natürlich. Aber an Stelle von Kubricks »2001«, »Chariots of Fire« und »Bend it like Beckham« hätte ich mir doch triftigere Glanzstunden vorstellen können.

Gleichwohl schien mir das Heftchen ein hübsches Geschenk für einige anglophile Freunde zu sein. Allerdings enthielt das Set noch eine erfreuliche Dreingabe von vier Marken, die, nicht ganz uneigennützig, an ein wenig bekanntes Kapitel der Kinogeschichte des Vereinigten Königreichs erinnert: an die 30er Jahre, als das General Post Office eine eigene Filmabteilung unterhielt. Zwar kannte ich zu diesem Zeitpunkt ein paar Filme, welche die GPO Film Unit hervorgebracht hatte (»Night Mail«, dem die Musik von Benjamin Britten und am Ende das Gedicht von W.H.Auden einen tollen Rhythmus geben, ferner »Song of Ceylon« sowie »Britain can take it«, die trotzige Hymne an den Widerstandsgeist der ausgebombten Bewohner von »Churchills Insel«), aber ihre Existenz war mir bis dahin verborgen geblieben. »Erstaunlich,« sagte Bertrand Tavernier entzückt, als ich ihm einige Monate später das kleine Mitbringsel überreichte, »wo sich die Briten doch sonst so wenig auf ihre Filmgeschichte besinnen.« Da würden sogar zwei Aspekte des Kinos verschmelzen, erwiderte ich nicht ohne einen gewissen Anflug von Opportunismus, die sein Gegenspieler Francois Truffaut stets geringschätzte: der britische und der Dokumentarfilm.

Dass die Post zum Mäzen der Filmproduktion, und in diesem Falle gar der filmische Avantgarde werden kann, ist wahrlich ein famoser Tatbestand. Dank Hannes Brühwiler und Lukas Foerster, die als Kuratoren der Reihe »Film-Atlas« die Kartographie des Kinos neu vermessen, durfte ich mich in den letzten Wochen nun etwas intensiver mit diesem Kapitel beschäftigen. Zur Zeit läuft im Österreichischen Filmmuseum ihre Auswahl von GPO-Produktionen, die ihren Weg hoffentlich auch in kommunale Kinos in Deutschland finden wird. (Falls nicht, empfehle ich Ihnen dringend die DVD-Editionen des British Film Institute.) Wir haben es hier fürwahr mit einer merkwürdigen Gemengelage zu tun: Eine britische Institution fördert die Arbeit von vorwiegend linken und überdies kosmopolitischen Filmkünstlern. Der erste Leiter der 1933 gegründeten Abteilung, John Grierson, wurde dann zeitweilig auch von der Polizei überwacht.

Einerseits sind ihre Produktionen kaleidoskopische Einführung in zeitgenössische Kommunikationstechniken. Anscheinend musste dem britischen Kinopublikum der 30er der Gebrauch von Wählscheiben noch erklärt und musste es verschmitzt auf die korrekte Adressierung ihrer Briefe hingewiesen werden; andernfalls hätten die Verliebten in Len Lyes »N or NW« wohl ihr Rendezvous verpasst. Diese aus heutiger Warte selbstverständlichen Verrichtungen gewinnen in den Filmen noch eine magische Aura. Der moderne Alltag, der sich in ihnen offenbart, ist märchenhaft. Gestrenge Feen klären über das Regelwerk des Telefonierens auf und die Damen von der Vermittlung singen munter dazu. Eine filmische Skulptur von Moholy-Nagy besiegelt die Verdichtung des Leitungsnetzes, an das 1933 immerhin schon eine Dreiviertel Million Londoner angeschlossen war. (Die Filme besitzen einen ungeheuren statistischen Furor,) Stolz wird das Funktionieren von Prozessen vorgeführt, stets in der Doppeldeutigkeit von technischer Handhabe und poetischer Reflexion.

Zugleich erobern sich Filmemacher wie Humphrey Jennings, Basil Wright und Harry Watt noch ganz andere Zuständigkeiten. Ihre dokumentarischen Arbeiten ermöglichen gesellschaftliche Nah- und Fernerfahrungen. Sie klären den Zuschauer über dessen eigene Lebensrealitäten auf. Dass »Spare Time«, Jennings' Feldforschung über das Freizeitverhalten (»the space to be most ourselves«) in den prägenden Industrieregionen Englands, auf der New Yorker Weltausstellung 1939 lief, erfuhr ich übrigens nicht aus Artikeln, sondern der Briefmarken-Edition. Die Filme beschwören ein Laboratorium der Zukunft, scheuen aber auch nicht den Blick vor sozialen Missständen. Sie nehmen den Puls der Zeit. »We live in two Worlds« , der von Alberto Cavalcanti inszenierte film talk von J.B. Priestley, stellt eine erstaunliche Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Faschismus dar und eröffnet eine frühe Vision von Globalisierung.

Die GPO Film Unit war eine Wunderkammer. Sie lieferte Animationskünstlern wie Len Lye und Malcom McLaren eine erste Plattform der Sichtbarkeit (worüber ich leider nur ansatzweise in der nächsten Ausgabe von epd Film schreiben kann) und war eine Talentschmiede der Tonfilmavantgarde. Hier tritt besonders der Brasilianer Alberto Cavalcanti hervor, dessen Tondramaturgie in Griersons »Granton Trawler« oder seinem eigenen »Pett and Pott: A Satire of the Suburbs« die Realität fragmentiert und neu sortiert. Ihren Bildungsauftrag verloren die Filme oft und mit schelmischer Souveränität aus den Augen (wenngleich Cavalcantis Satire in einen selbstironischen Werbefilm über Nutzen und Tugendhaftigkeit des Telefonierens mündet). Der staatstragende Auftrag ließ keinen Spielraum für Subversion, aber die Filmemacher kaperten sich ihn.

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