Die ungeschminkte Stadt

Nach meiner Erfahrung ist Anfang September die beste Zeit, um Marseille zu besuchen. Die Ferienzeit ist vorüber und das Wetter in der Regel spätsommerlich. Die Restaurants sind leerer, die Straßen und Märkte werden wieder von den Einheimischen in Besitz genommen. Man kann die Stadt erkunden, ohne sich als Tourist zu fühlen.

Wer in diesem September keine Gelegenheit dazu hat, kann stattdessen imaginäre Reisen dorthin unternehmen. Dazu empfiehlt es sich allerdings, in Frankfurt zu wohnen. Ab heute Abend (3.9.) zeigt das Filmmuseum eine kleine Reihe über Marseille im Film. Sie ist bei weitem nicht so ausführlich und entdeckerfreudig wie die Retrospektive, die das Österreichische Filmmuseum im letzten November präsentierte. Sie legt jedoch ähnliche Schwerpunkte, da sie von Daniel Winkler kuratiert wurde (ein großes Wort angesichts von sieben Filmen), dessen Buch „Marseille! Eine Metropole im filmischen Blick“ (Schüren Verlag, 24,90 €) die Stadt und ihre filmischen Doubles umfassend in den Blick nimmt. Seine Ausführungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der Stadt finde ich ungeheuer aufschlussreich. Die Lektüre wurde mir zuweilen einzig vergällt durch den etwas filmfernen Stil (wenn ich mich recht erinnere, gehört er zu den Schreibern, die sich nicht entblöden, das altbackene Synonym „Streifen“ zu benutzen).

Zum Auftakt laufen zwei Filme der treuherzigen Klassenkämpfer, die Marseille hervorgebracht hat: „Der Schnee am Kilimandscharo“ von Robert Guédiguian und „Verabredung im Hafen“ sowie „Marseille ohne Sonne“ von dem unverzichtbaren Paul Carpita. Ihre Arbeiten führen vor, wie unverblümt die mediterrane Mentalität ist: Unbeirrt führen die Figuren ihre politischen Überzeugungen im Munde. Nie strahlte die Sonne so hell über der Stadt wie beim Streik in „Verabredung im Hafen“. Auch bei René Allio und anderen ist die Metropole ein melancholisches Laboratorium der sozialen Verwerfungen.

Wie schwer diese Stadt zu domestizieren ist, davon wissen Filmemacher, Urbanisten und Politiker gleichermaßen ein Lied zu singen. Sie verfügt über Viertel, die keine Staatsmacht je kontrollieren konnte. Auf diesem filmischen Terrain gedeiht Wildwuchs prächtig. In „Justin de Marseille“ von Maurice Tourneur (einer der Höhepunkte der Wiener Reihe, in Frankfurt leider nicht zu sehen) und vier Jahrzehnte später in John Frankenheimers „French Connection II“ hat die Straßenreinigung kapituliert. Das sei die lauteste und raueste Stadt, in der er je gedreht hat, sagte Frankenheimer später. Die korsische Mafia war über jeden Schritt des Filmteams genauestens unterrichtet. Tatsächlich gab sie und nicht die Stadtverwaltung die Drehgenehmigungen aus. Der Regisseur wurde gar vom Kopf der Mafia einbestellt, der sich als eine würdevolle ältere Dame entpuppte und wissen wollte, wie genau der Drogenschmuggel in seinem Film von Statten ginge? Nein, so könne er das nicht drehen, verfügte sie, denn genau so machen wir es.

„Die Wahrheit von Marseille ist derart schön, dass sie aus der Ferne wie ein Lüge erscheint“, erklärt ein lokalstolzer Einheimischer in „Justin de Marseille“ einem Reporter. In den Liebeserklärungen an die Stadt klingt unweigerlich ein Unterton von Trotz mit. Aus der Pariser Zentralperspektive war die zweite Stadt Frankreichs stets anstößig. Nicht nur ist sie verfemt als Hochburg des organisierten Verbrechens. Auch als historisch gewachsener Schmelztiegel ist sie verdächtig; zu gut funktioniert hier seit jeher die Assimilation des Fremden. Dieser Randlage begegnet das Kino, in dem es ein Zentrum findet: Kaum ein Film, der nicht mit einer Ansicht des Hafens beginnt.

Außer Paris hat keine andere französische Stadt eine solch eigene, unverwechselbare Folklore hervorgebracht. An Marcel Pagnol führt bei diesem Thema natürlich kein Weg vorbei. In Frankfurt jedoch läuft originellerweise eine deutsche Adaption von dessen Stück "Fanny": "Der schwarze Walfisch" mit Emil Jannings in der Rolle, die eigentlich mit Haut und Haaren Raimu gehört. Marseille war auch einmal eine Hochburg des Operettenfilms. Für dessen Seligkeiten hat die Filmreihe keinen Platz; auch den touristischen Blick spart sie aus. Aber das wäre, mit Paul Carpita gesprochen, auch das falsche Marseille.

 

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt