Netflix: »Rentierbaby«
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Man glaubt sehr schnell, Bescheid zu wissen, wenn man mit der Netflix-Serie »Rentierbaby« beginnt. Es geht um Stalking – ein Thema, das offenbar viel mehr Menschen berührt, als man gemeinhin dachte – und die Stalkerin betritt auch gleich die Szene. Dass es sich bei Martha (Jessica Gunning) um eine Frau handelt, die sozial etwas im Abseits steht, scheint ebenso auf den ersten Blick ersichtlich. Das liegt keinesfalls nur an ihrer Körperfülle oder ihrer wenig schicken Kleidung, sondern hat mehr mit der quecksilbrigen Art zu tun, mit der sie von »zu Tode betrübt« zu »himmelhochjauchzend« wechselt. Soeben hatte sie sich noch vollkommen deprimiert an die Theke der Bar gesetzt, in der Donny (Richard Gadd) arbeitet; dann gab er ihr eine Tasse Tee aus, und ihre Miene hellte sich auf wie ein Scheinwerferlicht. Von dieser Quecksilbrigkeit geht etwas Bedrohliches aus, aber zugleich liegt auch das verführerische Moment einer Einladung zum Chaos darin. Man versteht sehr gut, was die Stimme von Donny dazu aus dem Off erzählt: dass schon diese erste Tasse Tee eigentlich ein Fehler war, sozusagen der kleine Finger, aus dem dann die ganze Hand wurde und noch viel mehr. Aber eben auch dass trotz allem etwas an Martha ihn auch unmittelbar anzog: ihr enthemmtes Lachen zum Beispiel. Martha jedenfalls kommt nach dieser ersten Tasse Tee wieder und wieder und drängt sich in Donnys Leben, nicht mehr aufzuhalten, wie eine Naturgewalt.
Als Zuschauer fühlt man sich hier wie gesagt noch ganz auf der sicheren Seite: Opfer Donny und »Täterin« Martha sind klar benannt; der humorvolle, selbstreflexive Ton, den Donny dazu aus dem Off anschlägt, stellt eine gewisse Leichthändigkeit in Aussicht. Vielleicht kommen später traumatische Erfahrungen zur Sprache, aber ein gewisser Grad an Comedy scheint garantiert. Wer im Zusammenhang mit Phoebe Waller-Bridges Serie »Fleabag« von deren Ursprüngen im »Edinburgh Festival Fringe«-Zusammenhang erfahren hat, erkennt auch eine formale Verwandtschaft. Wie Waller-Bridge ihr Stück »Fleabag« präsentierte auch Richard Gadd sein »Baby Reindeer« zuerst in Edinburgh als Ein-Mann-Show. Diese Art der autofiktionalen Beichte in Form einer Comedy-Routine hat außerdem Konjunktur und bringt manches Meisterwerk hervor, wie zum Beispiel auch John Mulaneys Comedy-Special »Baby J«.
Aber man sollte sich von der Vertrautheit der Form bei »Rentierbaby« nicht täuschen lassen. Die Serie zieht einem bald förmlich den Boden unter den Füßen weg. Stück um Stück enthüllt Donny nämlich nicht nur, wie Martha ihm nachstellt und zusetzt – Tausende von Mails, Voice-Messages, Textnachrichten –, sondern auch was sein Anteil daran ist, was ihn dazu brachte, weit mehr als nur den sprichwörtlichen kleinen Finger darzureichen. Dass er zu Marthas »Opfer« wird, hat auf seiner Seite mit einer anderen Erfahrung von Missbrauch zu tun, einer, die ihn so traumatisiert zurückgelassen hat, dass er sie vor sich selbst kaum ausspricht.
In der Serie erzählt Donny das mit einer Ehrlichkeit, die einerseits fasziniert und andererseits so viel Fremdscham beim Zuschauer weckt, dass man oft kaum noch hingucken möchte. Aber man kann nicht anders, nicht zuletzt weil man sich ein von all den Peinlichkeiten erlösendes Ende erhofft.
Richard Gadd hat der Figur, die er spielt, zwar einen anderen Namen gegeben, andererseits aber immer betont, dass die Show auf seinen eigenen Erfahrungen beruht, dass ihm beides, das Stalking und der Missbrauch, wirklich passiert sind. Die Differenziertheit, mit der er die widersprüchlichen Motive seines eigenen Verhaltens aufschlüsselt, ist atemberaubend reich an Einsichten über die komplexe, unvollkommene Natur von Menschen, von solchen mit mental health issues und solchen ohne. Dass eine Serie, die bei aller Comedy derartig ernsthaft und vielschichtig von psychischen Problemen erzählt, einer der größten Netflix-Hits der Geschichte des Streamingdienst wird, verwundert und erschreckt auch ein bisschen. Dass der Erfolg mit sich brachte, dass die Internetmassen bald die wahre Identität von Gadds Stalkerin ausmachten und diese nun in eine Öffentlichkeit gestoßen wurde, die ihr sicher nicht unbedingt guttut, ebenso.
OV-Trailer
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