Der Zuschauer läuft mit

»Berlin Olympiade 1936«

Als 1896 in Athen die Ära der modernen Olympischen Spiele anbrach, setzte auch der Siegeszug des Kinos ein. Von Beginn an faszinierte das gesellschaftliche Ereignis die Filmpioniere. Sport als Event und Körperdrama war ein  »gefundenes Fressen« für die Bewegtbildfotografie, umgekehrt stellten die visuellen Reize der unterschiedlichen Sportarten immer neue verlockende Herausforderungen an Kameraleute und Schnittmeister dar. So präsentiert der bislang älteste aufgefundene Olympia-Film, 1912 in Stockholm entstanden, Großaufnahmen der Bäuche von Radsportlern, deren Leistung sich daran maß, wie sehr sie nach dem Rennen mit ihrer Atmung kämpften. Und schon damals simulierten Fahrtaufnahmen den Eindruck, als laufe man im Kinosessel den Marathon mit.

Sport und Film – die Affinität dieser oft instrumentalisierten Kulturtechniken produziert seit mehr als 100 Jahren immer neue komplexe Wechselwirkungen. Anhand  des umfangreichen Archivs des Internationalen Olympischen Komitees lässt sich eine Geschichte der jüngsten Moderne erzählen, die die Bildpolitiken und medientechnologische Entwicklungen anschaulich macht. Neben rührenden Fetischen, etwa olympischen Fackeln, Schuhen, Trikots und Sportgeräten der Medaillengewinner verfügt das Archiv über die weltgrößte Sammlung von olympischen Foto- und Filmdokumenten.

Um diesen »Schatz« (IOC-Präsident Thomas Bach) zu restaurieren, historiografisch zu beforschen und zu digitalisieren, hat das IOC in den vergangenen Jahren viel Geld in die Hand genommen. Seit es bei den Spielen 2008 in Peking erstmals sein Monopol auf das weltweite Signal für die Fernsehübertragung vermarktete, stiegen seine Einnahmen exponentiell, während zugleich die Kritik an Korruptions- und Dopingskandalen das Image gefährdet. Vielleicht kein Zufall, dass der frühere IOC-Präsident Antonio Samaranch, der Vorreiter der Kommerzialisierung, die hehren olympischen Ideale der Völkerverständigung und des friedlichen Wettbewerbs in dem von ihm gegründeten Olympischen Museum nobilitieren wollte.

Vor kurzem erst nach umfangreichem Umbau mit opulenten digitalen Installationen wiedereröffnet, präsentiert das in einem Park am Genfer See in Lausanne gelegene Museum die Sonderausstellung »Behind the Screen«, die den Medienwandel vom Film zur expansiven Fernseh- und Rundfunkübertragung anschaulich macht. Eine Tagung ging der Frage nach, wie denn die »Couch-Potatoes« der Smartphone-Generation für den Bilderschatz und die Spiele selbst zu gewinnen sind.

Befremdlich indifferent gegenüber kritischer Film- und Zeitgeschichte feiert die Ausstellung Leni Riefenstahl als Ästhetin, deren erfindungsreiche Aufnahme- und Montagetechniken noch heute gültige Standards setzten. Kevin Brownlow, der Senior der britischen Filmhistorie, steigerte sich in seinem Beitrag in eine blinde Hommage an die vergötterte Meisterin des »pure Cinema« hinein.

Wie anders die Kinoqualität der Schwarz-Weiß-Episode, die die schwedische Regisseurin Mai Zetterling 1972 in München drehte (als der palästinensische Terrorakt noch nicht geschehen war!). Sie sei nicht an Sport interessiert, sondern an Obsessionen, schickte sie voraus, bevor sie die Einsamkeit der Gewichtheber beim Training in einer leeren Halle einfing. Eindringlich skeptisch auch der insistierende Blick von Carlos Saura auf das Marathonziel in Barcelona 1992. Saura faszinierte die Erschöpfungs-Trance der einlaufenden Frauen, seinem Produzenten erschienen die präzise kadrierten Momentaufnahmen jedoch zu negativ, weshalb er sie aus dem Film entfernte.

Das Museum sammelt und restauriert solche verlorenen Beispiele reflektierter visueller Auseinandersetzung mit dem sportlichen Leistungsbegriff – ob die Filme zugänglich gemacht werden, blieb offen. Das IOC denkt über einen eigenen Fernsehkanal nach, um auch in Olympia-freien Jahren aus seinen Bilderbergen Programme zu produzieren und das Publikum über die sozialen Medien zu erreichen.

»Behind the Screen« zeigt, wie nah die Kameras inzwischen heranzoomen, wie voyeuristisch sie jede Regung festhalten, mit welchen Mitteln die Entgrenzung der Körper inszeniert wird. Das Erbe der Riefenstahl-Ästhetik sei noch nicht ausgeschöpft, sind sich die Bildstrategen des Museums und der IOC-eigenen Fernsehproduktion OBS einig. Anders als Kevin Brownlow  betonten sie den Vorrang des »Storytelling« vor dem »pure Cinema«, wie es etwa die Schwerelosigkeit ihrer Turmspringer-Sequenz assoziiere. Pathos und Drama seien das Rezept, um zehn Sekunden Erfüllung oder Versagen in das Format eines Smartphone-Displays zu pressen. Claudia Lenssen

Bis Januar 2016
www.olympic.org/museum

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