Woodstock-Festival: 50. Jubiläum
»Woodstock, 15. August 1969«
Vor 50 Jahren, am 15. August 1969, begann das legendärste Festival der Musikgeschichte: Woodstock. Und es war der Ausgangspunkt für einen epochalen Dokumentarfilm, an dem Martin Scorsese mitwirkte
Gelegentlich spürt man noch den Wunsch, das Ganze zu einem Teil der eigenen Jugend zu erklären. Doch Woodstock war vor 50 Jahren; seine Protagonisten, so sie noch leben, wie auch die meisten seiner Fans sind längst jenseits der Pensionsgrenze. In diesem Fall springt die Differenz von wirklichem Erleben und dessen medialer Vermittlung freilich gestalthaft ins Auge: Der Drummer von Santana bleibt im Film »Woodstock« auf immer 19 Jahre jung. An dem Oscar-Gewinner für den besten Dokumentarfilm von 1971 sind neben der Patina der legendären »drei Tage voller Liebe, Frieden und Musik« noch andere Paradoxe zu erkennen, die Medien oft zu eigen sind; allein, in diesem Fall werden Komposition und wunschhafte Momente besonders prägnant. Intention und Produktion liegen dagegen eher im Dunklen.
Unbestreitbar ist, dass das Festival einen kommerziellen Anfang hatte. Um all die Ideen, die in der Regel mit den Adjektiven »frei« oder »spontan« verbunden werden, zu realisieren, war eine Menge Risikokapital nötig. In der TV-Miniserie »Woodstock-Diaries« von D.A. Pennebaker amüsieren sich, 25 Jahre später, zwei der vier Produzenten, mittlerweile gestandene Wall-Street-Broker, über ihre Geschäftsidee wie über einen Jugendstreich. Da die Bandmanager vor Ort bares Geld oder zumindest Verrechnungsschecks sehen wollten, brachte ein Hubschrauber in der Samstagnacht Nachschub von der nächsten Bank. Der Farmer, der das Gelände zur Verfügung stellte, erhielt 75.000 Dollar – eine Wahnsinnssumme bei einem durchschnittlichen Verdienst von 6.000 Dollar im Jahr 1969 in Amerika.
Als die Produzenten vor der Wahl standen, die kunstvolle hölzerne Drehbühne oder den allumfassenden Zaun fertig zu bauen, entschieden sie sich für die Einstellung des Ticketverkaufs und den Verzicht auf Kassenhäuschen. Stattdessen heuerte man Fernsehleute an, Freelancer aus der New Yorker Direct-Cinema-Szene, die in kleinen Bild-Ton-Teams eine ungeheure Menge an 16-mm-Material vom Gelände trugen, das später auf 70 mm aufgeblasen wurde.
Die kassenträchtigste unter vielen glücklichen Entscheidungen fiel zwei Tage vor Beginn des Festivals. Sie war die Rettung von Woodstock Ventures: Der dritte Produzent, Artie Kornfeld, sicherte einen Deal mit Warner Brothers; zunächst erhielt der Verleihriese 50 Prozent, für eine weitere Million wurden dann die kompletten Vermarktungsrechte abgetreten. Dies geschah heimlich, hinter den Kulissen: Die Produktivkräfte, frei nach Marx und Benjamin, verblieben vorderhand beim »Volk«; zum Künstler, ja zum eigentlichen Kunstwerk wurden, erstmals, die »User«. Auf solches Wünschen spekulierte 40 Jahre nach dem Event die Möglichkeit, mit dem Erwerb einer Collectors-Edition mit vier DVDs noch einmal dabei zu sein, eine teure Box, deren Mehrwert bescheiden ist. Wer alles über die Genese des Festivals wissen will, sollte zu Joel Makowers »Woodstock: The Oral History« (1989) greifen.
Das Kunstwerk ist und bleibt aber der Film in seiner ursprünglichen Variante von 184 Minuten: Der etwas längere Director's Cut weist einige Showpieces mehr auf, unter anderem von Janis Joplin; dafür ist der Rhythmus des Ganzen dahin. Große amerikanische Bands wie Creedence Clearwater Revival – Kalifornier, die den Süden vertraten –, Blood Sweat and Tears mit ihrer Las Vegas-Anmutung oder Grateful Dead aus der Bay Area sind im Medien-Woodstock aus diversen Gründen nicht dabei. So wurde weniger die zeitgenössische Szene abgebildet, mit einem Zusatz britischer Avantgarde – in der Nachverwertung galt vor allem die Prämisse »neu«. Dabei hatten die Produzenten anfangs nur den Film verkauft, ehe jene Bands gefragt wurden. Mit The Band aus dem tatsächlichen Woodstock, der ehemaligen Arts-Crafts-Kolonie upstate New York, wäre die ideelle Absicht des Festivals zu entwickeln. Sie würde handeln von der Suche nach verborgenen amerikanischen Wurzeln, vom einfachen Leben auf dem Land, von Pionier- und Astralromantik. Greil Marcus in vielerlei Büchern und zuletzt Barney Hoskins in »Small Town Talk« haben diese Geschichte(n) erzählt.
Das ursprüngliche Line-up spricht von den Roots: Am ersten Tag sollte es aus-schließlich wooden music geben. Neben der großen gab es eine kleinere Bühne. Hier wurde improvisiert, hielten Aktivisten wie Abbie Hofmann Hof, verkaufte die Free Press ihre Manifeste; es gab auch Yoga, schöne Körper, manches zu rauchen und Pillen zu schlucken. Die Idee des Music und Art Fair als »Aquarian Exposition« (wie es offiziell im Titel des Festivals hieß), die Schau eines umfassend neuen Lifestyles unter dem Sternzeichen des Wassermanns, sie kam vor allem hier zum Tragen. Im Film werden diese Zeichen groß. Anteil daran hatten die Aktivisten der Hog Farm, die aus New Mexico eingeflogen worden waren. Sie verantworteten nichts weniger als einen Teil der Sicherheit, Verpflegung und Erste Hilfe. Wavy Gravy, die Galionsfigur der Hogs, sandte von der großen Bühne herunter »Werbespots für menschliche Anliegen«. Heute würde man seinen Job Influencer nennen.
Am Ende bleibt Woodstock ein Film ohne Autor und ohne Regisseur. Michael Wadleigh wird in allen Interviews als bloßer Koordinator der Kameraleute beschrieben. Glückliche Bildfindungen, wenn die schwangere Joan Baez etwa in den unteren Winkel des dunklen Bildkaders rutscht, während ihr verschwenderischer Sopran ein Spiritual zelebriert, bleiben anonym. Woodstock on screen ist ein Film der Minderheiten, die sich Stimme verschaffen, seien es Schwarze, Latinos, Linke, Christen, Frauen, Hippies. Allein die Schwulen blieben außen vor. Ihr Coming Out hat Ang Lee mit »Taking Woodstock« (2009) nachgeholt.
Den größten Teil der Produzentenleistung und einen wahren »Mammutjob« vollbrachte der vierte Mann im Bunde, Michael Lang. Er trommelte Stage and Lighting-Techniker, Ablaufkoordinatoren und Ausstatter vielerlei Couleur zusammen; das legt nahe, dass Langs Handeln von Anfang an durch filmisches Denken bestimmt war. Eine klare Entscheidung in Richtung Spielfilmdramaturgie fiel dann im Schneideraum, als man das heftige Unwetter kurzerhand vom Sonntag auf den Samstag vorverlegte und so ein Drei-Akt-Drama schuf.
Aus der Not heraus entstand die prägnante Form des Films: Weil knapp 200.000 Meter belichtetes Material zu bändigen waren, legte man die Ergebnisse der sechs, sieben stets gelaufenen Éclair-Kameras und Nagra-Tonrecorder nebeneinander an. Mit der Hilfe eines aus Frankfurt/Main eingekauften KEM-Schneidetisches entstand so die prägende Splittung von Bild und Mehrkanalton, visuell als lange Folge von Quadraten, Diptychen, Tryptychen, Spiegelungen und anderen Extravaganzen des Formats. Diesen letzten und entscheidenden Schritt vollbrachte ein Team um Larry Johnson (Sound) und Thelma Schoonmaker (Bildschnitt), die hier noch ihren späteren Mentor Martin Scorsese anleitete.
»Die Idee einer vollkommen separierten dropped-out-city entwickelte sich in der zeitgenössischen Vorstellung, als sei dies ein tatsächlicher Ort, eine echte Entität mit ihren eigenen Gesetzen und Grenzen, die irgendwie mit den Entwürfen eines älteren amerikanischen Raums koexistierten, den sie für sich reklamierten und transformierten«, heißt in Alistair Gordons Buch »Spaced Out«, das längerfristig belebte, oft gezimmerte Biotope der 60er Jahre abbildet.
Das Festival kam spät in der Aufbruchsbewegung der amerikanischen Jugend. Der Film »Woodstock« wurde nicht zuletzt wegen einiger prägnanter Anti-Vietnam-Hinweise zu einem ihrer Schlüsselmomente. Fortan existierte die Utopie wirkungsmächtig im medialen Format.
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