Tiefe Finsternis
Mantas Kvedaravičius; † 2. April 2022 in Mariupol, Ukraine
»Und plötzlich war Krieg«: So war der Text im letzten Heft angekündigt, der vom zeitgenössischen ukrainischen Film vornehmlich junger Frauen handelte und nach einer historischen Rückblende zu Oleksandr Dovženkos sowjetukrainisch-antifaschistischem Kino mit der nostalgischen Zukunftshoffnung auf bald wieder mehr »Zwischentöne« endete. Die weltpolitischen Ereignisse der vergangenen Wochen und die entsprechenden kollektiven und individuellen seelischen Erschütterungen machen allerdings klar, dass der Zeitvektor nicht nach vorne zeigt, schon gar nicht in ein lichtes, der Subtilität der Alltagspoesie zugewandtes Morgen.
Der gewaltsame Tod von Mantas Kvedaravičius, des litauischen Filmemachers, dessen Arbeit auf unvergleichbare Weise den atmosphärischen Schwebezuständen und dem emotionalen Oszillieren von Gesellschaften im Kriegszustand auf der Spur war – dem unterdrückten Leiden, den ideologischen Andeutungskulturen, den Routinen der Schmerzbewältigung –, führt uns das drastisch vor Augen. Wenige Tage, nachdem der ukrainische Fotograf und Videodokumentarist Maksim Levin in der Nähe von Kiew getötet wurde, traf es in Mariupol mit Kvedaravičius einen der sanftesten, ruhigsten und meditativsten der Zunft.
Zwei seiner Filme, »Barzakh« aus dem Jahr 2011 und »Mariupolis« von 2016, feierten im Panorama der Berlinale ihre Welturaufführung. Beides sind behutsam experimentelle Dokumentarfilme phänomenologischer Prägung über das Leben (und Verschwinden) in Konflikt- und Kriegs-Zonen – der erste in Tschetschenien, der zweite in der ukrainischen Stadt Mariupol, in der der Filmemacher nun beim Versuch, konkrete Menschenleben zu retten und die Verbrechen der russischen Besatzer zu dokumentieren, gekidnappt und verschleppt wurde, erpresst, erniedrigt, vermutlich gefoltert, ermordet. Sein Leichnam wird nun einer forensischen Untersuchung unterzogen. Nicht nur sein Werk, auch etwa »Atlantis« von Valentyn Vasyanovich taucht da vor unseren Augen auf, ein 2019 herausgekommener, damals als Dystopie wahrgenommener Film über eine postapokalyptische Wüstenlandschaft im Donbass, in der Gift statt Wasser gereicht wird und die Begegnung mit der Spezies Mensch ein archäologisch-medizinischer Akt ist: Leichen bergen und sezieren.
Dem Sozialanthropologen mit der Filmkamera Mantas Kvedaravičius, der Familie und seinen Mitstreiter*innen sind wir neben der Re-Vision des Œuvres zumindest schuldig, seine Mission fortzusetzen: das Nicht-Sichtbare, das Nicht-Darstellbare, das Unfassbare des Kriegs – auch konkret des großchauvinistisch-imperialistischen-neofaschistischen Kriegs Russlands – zu analysieren, zu kritisieren, zu bekämpfen.
Tun wir das nicht, droht uns die kriegerische Gegenwart mit ihren nicht enden wollenden Gewaltspiralen zu erdrücken. Gerade weil wir mental, rhetorisch, medial und kulturell in eine profunde Finsternis zurückgeworfen scheinen, gilt umso mehr zu klären, worüber wir empört sind oder weinen, wem unser Kopfschütteln gilt, was es eigentlich bedeutet, vor allem für diejenigen, deren Köpfe gerade nicht so frei sind wie unsere, weil es in ihren Ohren dröhnt und ihre Augen vorübergehend »blind sind in Agonie«, wie es Valentina Zalevska vom Ukrainian Film Festival Berlin in Worte fasste.
Die unabhängige filmvermittelnde Initiative arbeitet auf Hochtouren und zeigt »Mariupolis«, »Atlantis« oder »No Obvious Signs« von Alina Gorlova, die gemeinsam mit anderen Regisseur*innen mutig die Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert, Stichwort: Archiv des Krieges. Die Screenings begleiten Einführungen und Podiumsdiskussionen, bei denen die Notwendigkeit, den Aggressor »Feind« zu nennen, und die Forderung nach einem Boykott russischer Kulturprodukte mit Steuereinnahmeeffekt immer nachvollziehbarer werden. Je mehr wir die Stimmen der Betroffenen, der Ukrainer*innen hören – und nicht nur derjenigen, die für oder über sie sprechen –, umso eher werden wir verstehen lernen.
Ob es also gerechtfertigt ist, dass die ukrainische Filmakademie einen der ›ihren‹, den ukrainischen Regisseur Sergei Loznitsa als ›nicht-ihren‹ identifiziert und aus ihrer Institution ausgeschlossen hat, indem sie ihn (zugegeben diskurspolitisch mehr als unglücklich) des »Kosmopolitismus« bezichtigt, – diesen Streit sollten wir den Betroffenen überlassen. Loznitsa kann sehr gut selbst argumentieren und weiß, dass es ein Privileg (des Westens) ist, aus einer gewissen Distanz zu sehen, dass dies »kein Krieg zwischen Ukraine und Russland« ist, sondern einer des »Totalitarismus – gegen die demokratisch-liberale Zivilisation«. Genau deshalb fordert er immer wieder, zuletzt im Rahmen einer von der Akademie der Künste organisierten Podiumsdiskussion, dass wir diesen Krieg auch als unseren anerkennen und Waffen gegen die russischen Bomben liefern.
»Wir haben kein Recht zu verwässern und nur in Andeutungen zu sprechen. Besonders wenn Krieg herrscht.« – Nicht über einen aus unserer Sicht nicht nachvollziehbaren blinden Hass sollten wir uns empören, sondern darüber, dass es so weit kommen konnte, dass Menschen – auch ein so pazifistischer Filmemacher wie Mantas Kvedaravičius – einen Todeskampf führen müssen. Und dabei für immer erblinden.
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