Raus aus der Krise, rein in die Krise
Freiluftkino Friedrichshain in Berlin
Schon im Mai haben die ersten Kinos wiedereröffnet. Und Umfragen zeigen: Das Publikum sehnt sich nach der großen Leinwand. Die Pandemie aber hat auf die Filmbranche heftige Auswirkungen. Und unter strengen Hygienebedingungen scheint der Neustart für viele unwirtschaftlich
Als Mitte März bundesweit alle stationären Kinos schließen mussten, schlug die Stunde alternativer Kinotypen. Zuerst waren es die vor Corona eher vor sich hin dümpelnden Autokinos, die bundesweit einen selbst in den 60er Jahren, als sie ihre Hochkonjunktur hatten, nicht gekannten Boom erlebten (siehe »Das Kino lebt – vor der Windschutzscheibe«). Rund 200 Autokinos spielten im Juni in Deutschland, ihre Zahl hat sich seit März verzehnfacht. Ein großes hat im Juni in Hamburg auf dem Heiligengeistfeld aufgemacht, das bis in den August Vorführungen anbieten wird; das größte im Raum Berlin spielt in Schönefeld vor 900 Autos. Die Kinobesitzer sehen das durchaus mit gemischten Gefühlen: Zum einen engagieren sie sich selbst im Autokinogeschäft – die entgangenen Kinoeinnahmen lassen sich dadurch aber nicht ausgleichen. Zum anderen tummeln sich im Drive-in-Business viele eigentlich branchenfremde Eventagenturen, die ihre Leinwände auch für Comedy und Kabarett, Gottesdienste und Discos zur Verfügung stellen und teilweise finanziell potente Sponsoren in der Hinterhand haben.
Und es hat im Juni wieder die Freilichtkinosaison begonnen, natürlich unter Auflagen, mit reduzierter Besucherzahl und strengen Hygienevorschriften. Die Hauptstadt des Open-Air-Kinos ist Berlin, mit dem traditionellen Freiluftkino Kreuzberg oder dem Freiluftkino in Friedrichshain, das zu normalen Zeiten 1700 Besucher fassen kann, aber jetzt nur 200 einlassen darf. Immerhin. Die Tickets muss man vorab buchen, wie in den Autokinos, die Platzanweiser achten auf Lücken zwischen den Besuchern. »Abstand, Rücksicht, Kino: so funktioniert der Kinosommer«, steht vor dem Film auf der Leinwand. Die erste Vorstellung mit »Der Glanz der Unsichtbaren« am 2.6. war ausverkauft.
Das ist die gute Nachricht: Die Menschen wollen Filme auf der großen Leinwand sehen – auch wenn Netflix und andere Streamingdienste die großen Gewinner der Krise sind. Die schlechte Nachricht: Den ortsfesten, traditionellen Kinos geht es sehr schlecht. Jede Woche verliert die Kinobranche 17 Millionen Euro an Ticketeinnahmen – diese Zahl hat die Geschäftsführerin des Hauptverbands der deutschen Filmtheater (HDF), Christine Berg, ins Spiel gebracht – bei weiterlaufenden Kosten: In drei Monaten würden die sich, so die Berechnungen des HDF, auf 186 Millionen Euro belaufen. Die meisten Kinos haben Kurzarbeitsgeld und Soforthilfen beantragt, aber die greifen zum Beispiel bei Minijobbern, auf die gerade kleinere Kinos angewiesen sind, nicht. Viele Kinos, so Berg, stehen vor der Insolvenz. Und die ersten prominenten Opfer gibt es auch schon. In Berlin stellten Ende Mai die Betreiber des fast 100 Jahre alten Traditionskinos »Colosseum« in der Schönhauser Allee am Prenzlauer Berg einen Insolvenzantrag. Auch der »Ufa-Palast« in Stuttgart, der der Familie Riech gehört, gab Ende Mai auf. Es war Deutschlands größtes Kino, mit 4235 Plätzen in 13 Sälen.
Als einen der Gründe neben dem Einnahmeausfall führt das Unternehmen den nicht vorhersehbaren Öffnungstermin an. Und in der Tat: Da hat der deutsche Föderalismus einen grotesken Flickenteppich hinterlassen. Die beiden Kinoverbände, der HDF wie auch die AG Kino – Gilde deutscher Filmkunsttheater, haben immer für einen bundesweiten Wiedereröffnungstermin plädiert. Kinos brauchen einen Vorlauf, für Marketing, für die Installation von Hygienemaßnahmen und vor allem für – Filme. Potenzielle Kassenknüller haben natürlich erst Premiere, wenn flächendeckend Kinos spielen. Aber nun erstreckt sich der Zeitraum der Wiedereröffnungen über zwei Monate, vom 9. Mai, als das Bundesland Hessen völlig überraschend vorpreschte, bis zum 2. Juli, wenn Berlin seine Kinos öffnen will. Die zwei ersten Kinos, die in Deutschland wieder spielten, am 9. Mai, waren das »Kino Gelnhausen« und das »Cinema Wolfhagen«. In Bayern etwa durften die Kinos ab 15. Juni wieder ihre Säle öffnen. Dort klagten die Betreiber des »Cinecitta« in Nürnberg auf eine frühere Eröffnung, scheiterten aber vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, der seine Entscheidung mit einem erhöhten Infektionsrisiko und fehlender Frischluftzufuhr begründete. Hinzu kommt, dass in den einzelnen Ländern unterschiedliche Hygienevorschriften gelten.
Rund 100 Kinos haben Anfang Juni in Deutschland wieder gespielt; rund 1700 Spielstätten gibt es. Den wiedereröffneten Kinos bleibt nichts anderes übrig, als die Filme zu zeigen, die schon vor der Schließung im Angebot waren und damals gut gingen, wie etwa die »Känguru-Chroniken« oder »Parasite«. »Wir haben gar keine Filme, die wir spielen können«, sagte Hans-Joachim Flebbe der »Berliner Morgenpost«. Flebbe betreibt Premiumkinos unter der Marke »Astor Filmlounge« und hatte kurz vor dem Lockdown seine Filmlounge auf der Frankfurter Zeil eröffnet. Die spielt wieder seit Mitte Mai, weil sie als Teil einer Shoppingmall dazu verpflichtet war. Mit »erschütternden« Zahlen, wie Flebbe sagt. Für das zögerliche Anlaufen der Besucherströme kann man sicherlich auch das geänderte Freizeitverhalten in Zeiten von Corona verantwortlich machen, das sich auf den privaten Rahmen beschränkte.
Kinobesuch soll allerdings laut einer Umfrage nach wie vor hoch im Kurs stehen. Aber wird sich Kinogefühl wieder einstellen, wenn die Kinos in ihre Säle nur einen Bruchteil der Besucher einlassen können? Wenn ganze Reihen frei bleiben müssen, weil die Abstände zu gering sind? Denn die 1,5-Meter-Regel bleibt fürs Erste bestehen. Das bedeutet ungefähr fünf Quadratmeter Fläche pro Besucher, was die Zahl der verfügbaren Sitzplätze auf 20 bis 30 Prozent einschränkt. Das ist vor allem für kleine Kinos mit nur einem Saal existenzbedrohend. Und gerade die kleinen Programmkinos waren in den letzten Jahren und Jahrzehnten das Salz in der Suppe des Kinoangebots. Das mutige Frankfurter Programmkino »Mal Seh'n« zum Beispiel blieb bis Ende Juni geschlossen, weil nach den Abstandsregelungen in dem kleinen Saal nur sechs Sitzplätze angeboten hätten werden können – maximal zwölf, wenn alle Besucher zu zweit aus gemeinsamen Haushalten kämen.
Auch wenn bis Anfang Juli die Kinos in allen Bundesländern wieder aufmachen dürfen, natürlich bei eingeschränktem Betrieb, eine Planungssicherheit, ob und welche Filme starten, wird es wahrscheinlich auf absehbare Zeit nicht für sie geben. Als Indikator für den Restart der Kinos galt lange Christopher Nolans »Tenet«, der am 16. Juli starten sollte. Nolan ist bekennender Kino- und Zelluloidfan; er möchte eine Kinoauswertung – abgesehen davon, dass sie bei dem 200-Millionen-Projekt unabdingbar scheint. Man spekulierte in der Branche lange darüber, dass, sollte es bei dem lange angekündigten Start bleiben, auch die anderen Blockbuster starten würden. Mitte Juni allerdings hat Warner den Start des SciFi-Thrillers um zwei Wochen verschoben, auf den 31. Juli (Update: 12.8.20). Als erster Film eines großen Studios wird Disneys »Mulan« ab dem 24. Juli (Update: 20.8.20) auf den deutschen Leinwänden zu sehen sein, der Superheldinnenfilm »Wonder Woman 1984« von Patty Jenkins, ursprünglicher Termin Mitte August, landete im Oktober, und »Matrix 4« muss sogar ein Jahr nachsitzen: Der Start wurde von Mai 2021 auf April 2022 verlegt.
Doch die Kinos sind nur die vielleicht sichtbarste Säule der Filmwirtschaft. Spürbar wird die Krise auch bei den Verleihern, gerade bei den kleineren Independents. Sie sind Verbindlichkeiten eingegangen beim Ankauf der Filme, die nun seit Monaten auf Halde liegen und sich nicht amortisieren können. Die digitale Auswertung über Streamingportale brachte zwar Einnahmen, ersetzen konnte sie die Kinoauswertung aber nicht. In der Film- und Fernsehproduktion, der dritten Säule, wurden die Dreharbeiten unterbrochener Filme teilweise wieder aufgenommen. David Schalko setzt die Serie »Ich und die anderen« für Sky fort.
Wobei das Drehen unter Corona in Deutschland strengen Arbeitsschutzmaßnahmen unterliegt, die die Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse aufgestellt hat. So sollen alle Personen, die sich am Set näher kommen können, Schauspieler, Regisseure, Techniker, in eine fünftägige Quarantäne gehen, in der sie zweimal getestet werden. Bei den Dreharbeiten soll der Mindestabstand von 1,5 Meter eingehalten werden. Schwierig für intimere Szenen – und billiger wird ein Film dadurch auch nicht. Und es bleibt ein Risiko, denn die Pandemiegefahr wird von einer klassischen Filmversicherung nicht abgedeckt. Deshalb fordert die Branche einen staatlichen Rettungs- und Ausfallfonds, der bei Corona einspringen kann. Die öffentlich-rechtliche ARD übernimmt, so Degeto Geschäftsführerin Christine Strobel zu »Blickpunkt: Film«, die durch Unterbrechungen entstandenen Mehrkosten.
Mittlerweile haben Landesregierungen und die Bundesregierung Nothilfeprogramme beschlossen, die auch der Filmwirtschaft unter die Arme greifen sollen. Das größte Finanzvolumen hat das Hilfsprogramm »Neustart Kultur«, das dem BKM untersteht: eine Milliarde Euro. 120 Millionen sind dabei für den Filmbereich vorgesehen, für Kinos, aber dezidiert auch für Produktion und Verleih. Man schätzt, dass die Filmwirtschaft rund 50 Prozent ihres Umsatzes im Jahr 2020 einbüßen wird. Hoffen wir, dass die kulturelle Infrastruktur nach Corona noch wiederzuerkennen ist.
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