Nahaufnahme von Chloë Sevigny
»Broken Flowers« (2005). © Tobis Film
Chloë Sevigny verkörperte einst als vieldeutiges weißes Blatt die Hoffnung auf ein anderes Kino jenseits des Mainstreams. Nun ist sie noch einmal in einem Whit-Stillman-Film zu sehen, »Love & Friendship«
Was ist Wahrheit, was Lüge? Verfolgen die Bilder von abgeschobenen Zweitfrauen, die sie so plastisch heraufbeschwört, Nicki (Chloë Sevigny) tatsächlich? Möglich wäre es. Schließlich hat sie als eines der vielen Kinder des selbst ernannten Propheten Roman Grant von klein auf miterlebt, wie es Frauen in dieser fundamentalistischen Mormonen-Sekte ergehen kann. Sie sind ihren polygam lebenden Männern gänzlich ausgeliefert und müssen immer damit rechnen, dass eine oder auch mehrere jüngere Frauen sie irgendwann verdrängen. Dennoch bleibt ein Rest von Zweifel. Nicki versteht es nun einmal perfekt, andere zu manipulieren. Also könnte es auch sein, dass ihre Angst und ihre Verzweiflung nur Show sind.
Nicki, die Zweitfrau des Unternehmers Bill, der statt auf Sektenterritorium in einer Vorstadt von Salt Lake City mit seinen drei Frauen lebt, ist die vielschichtigste Figur in der HBO-Serie »Big Love«. Das erklärt sich zum einen aus ihrer Stellung zwischen den Welten: Sie muss sich Barbara, der ersten Frau von Bill, unterordnen, sieht sich aber auch als Wahrerin der Traditionen der Sekte und ihres Vaters. Zum anderen ist es Chloë Sevigny, die einen unweigerlich in Nickis Bann zieht. Ihr doppeldeutiges, sich simplen psychologischen Mustern immer wieder entziehendes Spiel verleiht der innerlich zerrissenen, von einer kaum zu stillenden Gier nach Luxus getriebenen Frau eine besondere Faszination.
Dabei widerspricht die rollenbedingt recht konservativ gekleidete Nicki auf den ersten Blick Sevignys Image als Stilikone. Aber nach einem zweiten, etwas weniger oberflächlichen Blick wird offensichtlich: Diese Frau, die ihre Gefühle vor den anderen entweder verbirgt oder aber gezielt in Szene setzt, die jemanden umarmt und zugleich mit einem kurzen Seitenblick eben diese Umarmung als Scharade entlarvt, fügt sich nahtlos in Chloë Sevignys bemerkenswertes Schaffen ein.
In einem Mitte der 90er Jahre im »New Yorker« erschienenen Porträt hat der Schriftsteller Jay McInerney sie nicht nur zum »It Girl« jener Ära erklärt. Er hat damals zugleich auch das Mysterium ihrer Persona ebenso poetisch wie pointiert umrissen: »Die Fähigkeit, verborgene Tiefen anzudeuten, ist ein raffinierter Trick: ein weißes Blatt zu sein und doch wie Schriftrollen vom Toten Meer zu wirken.«
Diese Aura des Undurchdringlichen, die aber auch eine Einladung ist, die Leerstellen mit eigenen Projektionen zu füllen, hat vor gut zwanzig Jahren Fotografen wie Modemacher, Schriftsteller wie Künstler derart fasziniert, dass Chloë Sevigny innerhalb kürzester Zeit zum Liebling der New Yorker Ravekultur, der Modewelt und der Undergroundszene geworden ist. Mit ihrem nahezu untrüglichen Gespür für Stil und Mode auf der einen Seite und ihrer Verschlossenheit auf der anderen war sie tatsächlich die ideale Hauptdarstellerin für Larry Clarks Spielfilmdebüt »Kids«, zu dem der Skater Harmony Korine das Drehbuch geschrieben hat. Korine war es auch, der sie seinerzeit für die Rolle der 16-jährigen Jennie vorgeschlagen hat.
In »Kids« spielt Sevigny das Mädchen Jennie, die nur aus Solidarität mit ihrer Freundin Ruby einen HIV-Test macht. Sie war sich sicher, dass das Ergebnis negativ sein würde. Schließlich hat sie nur ein einziges Mal mit einem Jungen geschlafen. Aber dieses eine Mal mit Telly wird nun ihr ganzes Leben überschatten. Nun will sie Telly unbedingt wiedersehen und ihn mit seiner Schuld konfrontieren. Diese Suche nach ihrem Verführer wird für Jennie zu einer Odyssee durch das sommerliche New York. Sie hat ein klares Ziel und treibt doch passiv, der Welt und ihrem eigenen Schicksal ausgeliefert, durch den Tag und die Nacht. Wenn man Sevignys Leinwanddebüt heute sieht, fällt einem sogleich wieder McInerneys Beschreibung ein. Ihr Gesicht im Taxi, das nur von den wechselnden Lichtern der nächtlichen Großstadt beleuchtet wird, ist wirklich ein weißes Blatt Papier, das der Betrachter mit seinen Ideen und Vorstellungen füllt. Leere und Schmerz, Angst und Apathie liegen in ihm. All die widerstrebenden Gefühle, die Clarks schonungsloses und doch auch zärtliches Porträt einer haltlosen Generation provoziert, scheinen sich in diesen Bildern von einer jungen Frau, die sich mehr und mehr verliert, zu bündeln.
Als McInerneys Porträt entstand, waren die Dreharbeiten zu »Kids« noch nicht abgeschlossen. Und so dreht sich bei McInerney alles um Mode und die unterschiedlichen Subkulturen, durch die Sevigny sich damals bewegte. Daran hat sich seither wenig geändert. Natürlich haben ihre Auftritte in »Last Days of Disco«, Whit Stillmans grandioser Hommage an das New York der 80er Jahre, und Mary Harrons »American Psycho«, in Kimberley Peirces »Boys Don't Cry« und Vincent Gallos »The Brown Bunny« für Aufsehen gesorgt. Trotzdem wird sie immer noch in erster Linie als Lifestyle-Ikone gefeiert. Dabei spiegelt sich in ihren Filmen und späteren Auftritten in Serien wie »Big Love« und »Bloodline«, »American Horror Story« und »Hit & Miss«, einer britischen Produktion, in der sie eine transsexuelle Profikillerin spielt, die Geschichte der Bewegtbilder der vergangenen zwei Jahrzehnte.
Für etwa ein Jahrzehnt, von 1995 bis 2005, dem Jahr, in dem sie in Lars von Triers »Manderlay« und Jim Jarmuschs »Broken Flowers« zu sehen war, verkörperte die undurchsichtige, so vieles andeutende Chloë Sevigny die Hoffnung auf ein anderes Kino jenseits des Mainstreams. Gerade ihr so umstrittener Auftritt in »The Brown Bunny«, der bei seiner Premiere aufgrund der expliziten Sexszene zwischen ihr und Gallo einen kleinen Skandal provoziert hat und von dem sie selbst einmal gesagt hat, dass er besser in ein Museum als in einen Kinosaal passe, zeugte von einer Radikalität, die mittlerweile aus dem Independent-Kino weitgehend verschwunden ist. Also ist Chloë Sevigny den Filmemachern, die in den 90ern den New Yorker Independent-Film geprägt hatten, ins Fernsehen gefolgt, das mit seinen Serienformaten mehr Möglichkeiten bietet, Grenzen auszutesten. So schillernde Rollen wie nun in Whit Stillmans Jane-Austen-Überschreibung »Love & Friendship«, in der sie sich wieder einmal jeder einfachen Zuschreibung entzieht, sind selten geworden und erinnern einen gerade deshalb so schmerzlich daran, was das Kino in den vergangenen Jahren verloren hat.
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