Kaminers Kino

Kurze Geschichten über Leben und Tod
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© Katja Hentschel

Kinotag in der kaukasischen Ebene, kurz nach dem Krieg. Es läuft Anna Karenina, das ganze Dorf weint. Als ob es wirklich um alles ginge. Was für ein Drama!

Ich wusste schon immer, Schauspielerei ist Betrug, besonders im Kino.

Meine Schwiegermutter, ein großer Kinofan, erzählte mir neulich von dem kaukasischen Dorf ihrer Kindheit. Dort gab es keine kulturellen Einrichtungen, keine Kneipen, Kinos, Clubs. Nicht einmal ein Wanderzirkus traute sich auf die kaukasische Ebene, nur ab und zu kamen die Zigeuner, wie sie damals sagten, die spielten und sangen und sagten die Zukunft voraus. Fast immer fehlten nach ihrem Auftritt irgendwelche Sachen in den Häusern. Während des Krieges büßte das Dorf fast alle Männer ein, viele starben an der Front, andere waren verloren gegangen oder nicht zu ihren Familien zurückgekehrt.

Das Kino im benachbarten Dorf auf der anderen Seite des Berges war der einzige Strahl der Kultur, der aus der Außenwelt zu ihnen drang. Alle zwei Wochen versammelten sich die Frauen des Dorfes und gingen ins Kino, einen sechs Kilometer langen Weg um den Berg he­rum, durch eine steinige Wüste und dann die gleiche Strecke zurück in der Dunkelheit, natürlich zu Fuß.

Trotz dieser Schwierigkeiten warteten alle auf den nächsten Kinotag und redeten täglich über die Filme, die sie noch nicht gesehen hatten, aber unbedingt sehen wollten. Alle Filme wurden von diesen naiven Frauen als reale Geschichten aufgenommen, die in einer Art »Vorsicht, Kamera!«-Aktion entstanden. Jeden neuen Film brauchten sie zum Tratschen wie die Luft zum Atmen. Besonders die Liebesgeschichten – mit einer Frau als Opfer am Ende – versetzten das Dorf in Aufregung.

Ein Großereignis war die Verfilmung von »Anna Karenina«, die 1953 in den Kinos lief. Eine arme temperamentvolle Frau, deren Herz sich zwischen der Gleichgültigkeit ihres Mannes und dem Leichtsinn ihres Liebhabers zerschlägt. Sie wird von der Strenge der damaligen Gesellschaft gefoltert und fällt am Ende ihrer Liebe zum Opfer, sie wirft sich vor den Zug. Das Dorf meiner Schwiegermutter hat den Film zig Mal gesehen und jedes Mal aufs Heftigste geweint. Umso größer war die Enttäuschung, als zwei Wochen später die gleiche Anna Karenina bei bester Gesundheit im nächsten Film die Zarin Katharina spielte, die Frau von Peter dem Großen. In diesem Film war sie sehr bestimmend, sehr laut und kommandierte die Männer auf der Leinwand, als wäre sie nicht gerade erst vor den Zug gesprungen. Der Filmvorführer erklärte den Bergleuten, dass dies nur Schauspieler sind, sie selbst leiden nicht. Ihre Aufgabe ist es bloß, die Gefühle von anderen Menschen mehr oder weniger glaubwürdig zu verkörpern und sie weiterzugeben, als wären sie ihre eigenen. In Wirklichkeit sind es aber Menschen ohne jede Regung, kalt und gefühllos wie Puppen. Der Filmvorführer wohnte in der Stadt, er kannte ein paar Schauspielerinnen persönlich und wusste, wovon er sprach.

Was für eine Schmach, sagte die Mutter meiner Schwiegermutter. Und wegen diesem Schund sind wir sechs Kilometer um den Berg herumgelaufen. Ich gehe nie wieder ins Kino, sagte sie und hielt ihr Versprechen. Bis zu ihrem Tod mit 86 Jahren war sie kein einziges Mal mehr im Kino.

Die Schwiegermutter weiß ebenfalls, dass die Schauspieler lügen, sie findet das aber in Ordnung und mag Filme trotzdem sehr, am liebsten solche, die, wie sie sagt, lebensnahe Umstände zeigen, das heißt solche, in denen viel gemordet und geschrien wird und Menschen sich mit den einzig wichtigen Dingen des Lebens beschäftigen, mit Streiten, Liebe und Tod.

Wladimir Kaminer, 1967 in Moskau geboren, wurde mit den Erzählbänden »Militärmusik« und »Russendisko« bekannt. Er lebt mit seiner Frau Olga und zwei Kindern in Berlin, Prenzlauer Berg, ist aber viel unterwegs – mit Vorträgen, Lesungen und Musikveranstaltungen.

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