Julien Temple: Anarchie auf der Themse
Julien Temple. © Stephen Organ
Julien Temple wurde in den 80ern mit Musikvideos und experimentellen Rockdokus bekannt. Jetzt kommt sein neuer Film über den Pogues-Sänger Shane MacGowan ins Kino. Andreas Rauscher hat sich an den Regisseur herangezoomt und einen tiefenentspannten Situationisten entdeckt
Als Absolvent der Filmhochschule begleitete der 1953 in London geborene Julien Temple in den 1970er Jahren die Londoner Punkszene. Mit den Sex Pistols (oder vielmehr deren Manager, dem Aktions- und Selbstvermarktungskünstler Malcolm McLaren) drehte er »The Great Rock 'n' Roll Swindle« (1980), eine Travestie auf das Rockbusiness in mehreren Lektionen. In den 1980er Jahren prägte er mit extravaganten, selbstreflexiven Videoclips für die Rolling Stones, David Bowie, Neil Young und Janet Jackson das Musikfernsehen. Der anfängliche kommerzielle Misserfolg des verspätet als künstlerischer Erfolg rehabilitierten Musicals »Absolute Beginners« (1985) führte ihn ins Exil nach Hollywood. Mit den Punkdokumentationen »The Filth and the Fury« (1999) über die einzelnen Bandmitglieder der Sex Pistols, »Joe Strummer – The Future Is Unwritten« (2007) und aktuell »Shane« (Crock of Gold – A Few Rounds with Shane MacGowan, 2020) kehrte er zu seinen Anfängen zurück, allerdings ohne jede verklärende Nostalgie. Stattdessen revolutionierte er die Rockdoku. Anstelle von statischen Großaufnahmen sprechender Gesichter in der Länge eines Progressive-Rock-Gitarrensolos setzt Julien Temple auf den dialektischen Erkenntnisgewinn kreativer Kollisionen. Zeit für einige Lektionen des vielseitigen Punkpioniers in Sachen Experimental-Rockumentary.
Bilder einer Bootsfahrt
Am 7. Juni 1977 spielte die berühmt-berüchtigte Punkband The Sex Pistols ihre Single »God Save the Queen (The Fascist Regime)« während des Krönungsjubiläums von Königin Elizabeth II. auf der Themse. Der heute zum Rockklassiker avancierte Song galt damals nicht nur als Majestätsbeleidigung, sondern nahezu als Staatsaffäre. Er wurde nicht im regulären Radioprogramm der BBC gespielt. Als er die obersten Ränge der britischen Charts erreichte, durfte er dort nicht genannt werden. Mit ihrer bestimmten Negation tradierter Starmarotten und prätentiöser Virtuosität entwickelten sich die Protopunks rund um den Globus zum Vorbild für zahlreiche Bands. Doch in England wurden ihre Auftritte meistens erst einmal untersagt. John »Rotten« Lydon, Steve Jones, Paul Cook und Glen Matlock (aufgrund seiner Begeisterung für die braven Beatles zeitweise durch Sid Vicious ersetzt) hatten zur Primetime einen aufdringlichen TV-Moderator beschimpft. Die beiläufigen Flüche galten im britischen Fernsehen als Präzedenzfall. Ihre folgenden Tourneen musste die Band nach umfassenden Protesten in der britischen Sensationsjournaille unter falscher Flagge absolvieren. Dokumentiert wurden sowohl die Konzerte der Band als auch die Proteste der entrüsteten Bürger/innen von Julien Temple.
Auch die erinnerungswürdige Bootsfahrt am Tag des Krönungsjubiläums begleitete er mit seiner Kamera. Wenig überraschend nahm sie ein vorzeitiges Ende. Die Polizei erteilte der Anarchie auf der Themse eine Abfuhr. Sex-Pistols-Manager und Teilzeitaktionskünstler Malcolm McLaren sowie einige Passagier/innen wurden verhaftet. Das Ereignis ging als einer der seltenen Augenblicke, in denen sich Rockperformance und politischer Protest unmittelbar ergänzten, in die Popgeschichte ein. Oder wie Sänger John Lydon über zwanzig Jahre später in Julien Temples zweiter Sex-Pistols-Dokumentation »The Filth and the Fury« erklärt: »We declared war on England without meaning to«.
Im Vergleich mit Temples Arbeiten wirken konventionellere Rockumentaries wie verfilmte Wikipediaeinträge. Er gibt sich nicht mit einer einzelnen Perspektive oder der Fortschreibung von Poplegenden zufrieden. Stattdessen ergänzen sich die konträren mündlichen Überlieferungen und Bildwelten zu einer polyphonen Punkästhetik, die Mythen ironisch bebildert, zugleich aber auch sarkastisch infrage stellt. Ganz im Sinne der mit Sicherheitsnadeln gehaltenen Modedesigns von Vivienne Westwood, der Anzüge John Lydons oder der aus ausgeschnittenen Materialien zusammengesetzten Plattencover des Grafikers Jamie Reid vermischt Temple gezielt die filmischen Formate.
Die Spurensuche im Archiv der eigenen Aufnahmen erweitert er in seinen Dokumentationen stets um Fundstücke aus Nachrichten, Werbeclips und assoziativen Ausschnitten aus Spielfilmen. Stop-Motion-Dinosaurier repräsentieren in einem eingefügten Filmschnipsel die saturierten Stadionrocker der 1970er Jahre. Laurence Olivier als Richard III. und der Glöckner von Notre-Dame werden als Referenzfiguren von John Lydon bei der Erfindung seines Punk-Alter-Egos Johnny Rotten herangezogen. Eine BBC-Unwetterwarnung aus den tiefsten 1970er Jahren symbolisiert die heraufziehenden popkulturellen und gesellschaftlichen Unruhen. Mit »No Future«-Slogans und 3 1/2 Gitarrenakkorden verlieh Punk einer sozialen Realität Ausdruck, deren Tristesse und Hoffnungslosigkeit in den britischen Medien Mitte der 1970er Jahre ignoriert worden war.
Das Publikum partizipierte selbst an der Ausgestaltung der Szene. In den Aufnahmen früher Pistols-Konzerte finden sich alle möglichen Protagonist/innen der späteren Punk- und New-Wave-Szene, von Gruft-Gründungsmutter Siouxsie Sioux über den Poprebellen Billy Idol bis hin zum Irish-Punk-Poeten Shane MacGowan, dem Temples aktuelle Dokumentation gewidmet ist. Traditionelle Geschlechterrollen wurden ebenso über Bord geworfen wie die Machomanierismen des Mainstreamrocks; von Siouxsie & the Banshees bis hin zu den Slits traten Frauen als gleichberechtigte Künstler/innen auf. Julien Temple partizipierte an der Punkszene als Zeitzeuge und aus der Distanz am Schneidetisch als Kulturhistoriker.
Julien Temple: Wenn man das Material jetzt neu sichtet, ist es wie Found Footage von einem anderen Planeten. Rückblickend erscheinen die Punks sehr modern, die alten Moderatoren wirken hingegen lächerlich und verkorkst. Man braucht einen gewissen Sinn für Humor bei der Arbeit an diesen Filmen. Ich mag es, mich über mich selbst lustig zu machen und dennoch zugleich vollkommen ernst zu bleiben. Es wäre furchtbar, belehrend oder berechenbar zu erscheinen. Die Montage ist für mich der Schlüsselprozess. Sie bildet den kreativen Antrieb.
Never Mind the Sex Pistols, Here's The Great Rock 'n' Roll Swindle
Das Prinzip der dialektischen Montage aus den Aktionsbildern der Musiker/innen, den Found-Footage-Zeitbildern und ironischen Kontrasten wie kurzen Animationen spart bei Temple auch die eigene Arbeit nicht aus. »The Filth and the Fury« liefert nach zwanzig Jahren den überfälligen Gegenakzent zu seinem Debütfilm. In »The Great Rock 'n' Roll Swindle«, dessen provokantes Spiel mit Medienmythen sogar Orson Welles begeisterte, präsentierten Temple und Malcolm McLaren Ende der 1970er Jahre die Geschichte der Sex Pistols als orchestrierten Zynismus. Die Kulturindustrie sollte mit ihren eigenen Mitteln als Irrenhaus vorgeführt werden. Die Geschichte der Band und der von ihr provozierten Skandale wird als von langer Hand geplanter Geniestreich McLarens präsentiert. Der »Gesellschaft des Spektakels« (Guy Debord) liefert er Anziehpuppen wie Punkikone Sid Vicious und kalkulierte Provokationen. Aus reiner Sensationsgier überbieten sich die Plattenlabels in den Ablösesummen für die Sex Pistols, wenn wieder einmal ein Interview schieflief, eine Single zu provokant war oder ein Büro verwüstet worden ist. Wirklichkeit und stilisierte Überzeichnung ergänzen sich im Film gegenseitig. Das Format einer Fake-Dokumentation, auch bekannt als Mockumentary, greift zu kurz, um dem »Rock 'n' Roll Swindle« gerecht zu werden. Es geht nicht nur um den komödiantischen Effekt, sondern um subversive Satire und Gesellschaftskritik in Form von spielerischem Sarkasmus, der allerdings auf Kosten der als reine Erfüllungsgehilfin vorgeführten Band ging.
Wie die radikale Bewegung des Pariser Situationismus in den späten 1960er Jahren holte Punk die Avantgarde in den Alltag. Kapitalismuskritische Slogans zierten Hitsingles wie »Anarchy in the U.K.« in den Auslagen der Kaufhäuser; Comics und Werbeanzeigen wurden umgestaltet und mit neuen Texten versehen. Doch im Unterschied zum Pariser Mai 1968 machte sich das Londoner Situationismus-Revival keinerlei Illusionen über utopische Aufbrüche. Ganz im Gegenteil schreckten McLaren und Co. auch nicht vor Geschmacklosigkeiten zurück, die spätestens mit dubiosen Naziwitzen in problematischen Leerlauf gerieten.
Ein deutlich politischeres Profil findet sich in den Songs der Band The Clash. Während John Lydon bis heute (individual-)anarchische Situationskomik dem linken Engagement des Situationismus vorzieht, verfasste die Band um Joe Strummer, Mick Jones, Topper Headon und Paul Simonon musikalisch vielseitige Songs, in denen vom spanischen Bürgerkrieg über die Sandinisten bis hin zur beginnenden New Yorker Hip-Hop-Szene ein weitgefächertes Spektrum an Themen aufbereitet wurde. Julien Temple begleitete auch einige der frühen Clash-Auftritte, bevorzugte aufgrund ihres schrägen Humors letztendlich aber doch die Sex Pistols. Ironischerweise trafen sich Temple und Strummer Jahre später als Nachbarn in der britischen Provinz wieder. Der Filmemacher und der Protestsänger wurden Freunde. 2007, fünf Jahre nach Strummers Tod, widmete Temple dem Wegbereiter des Politpunks die Dokumentation »Joe Strummer – The Future Is Unwritten«, die sein Leben, auch über die bereits mehrfach von Regisseuren wie Don Letts aufbereitete Geschichte von The Clash hinaus, erkundete.
Julien Temple: Wir leisteten uns mit dem »Rock 'n' Roll Swindle« einen situationistischen Witz. Der Slogan auf dem Filmplakat lautete, dass der sein Publikum kriminalisiere. Die Sex Pistols sollten die blindwütige Verehrung gegenüber Rock-'n'-Roll-Stars zerstören. Als die Fans begannen, die Sex Pistols zu verehren, wollten wir uns an ihnen rächen, indem wir diesen surrealen Witz lancierten, dass Malcolm alles nur erfunden und die Band manipuliert habe.
Anarchy in Animation
Als »The Great Rock 'n' Roll Swindle« 1980 in die Kinos kam, hatte sich die Band vorübergehend aufgelöst. Die tragischen Tode des an einer Überdosis gestorbenen Sid Vicious und seiner Freundin Nancy Spungen, die er vermutlich im drogeninduzierten Delirium im New Yorker Chelsea Hotel erstochen hatte, überschatteten den irgendwo zwischen Guy Debord und Monty Python angesiedelten Film. Bereits während der Produktion musste Julien Temple eine Lösung finden, wie er die fehlende Mitwirkung des ausgestiegenen, mit dem Management verfeindeten John Lydon kompensieren konnte. Als das Geld knapp wurde, griff er auf eine ebenso stimmige wie pointierte Notlösung zurück.
Julien Temple: Wir hatten beim »Rock 'n' Roll Swindle« in einigen Phasen nicht genug Geld, um den Film weiterzudrehen. Wir hatten auch nicht die Unterstützung aller Bandmitglieder. Ich drehte auf 35 mm. Als das Geld ausging, wechselten wir zu Super 8 und Video. Auf diese Weise entstanden sehr interessante visuelle Texturen. Die gleichen Ereignisse wurden durch unterschiedliche filmische Formate betrachtet. Mir gefällt es, verschiedene Realitäten aufeinanderzuschichten. Es war eine filmische Punkästhetik, wie wenn man unterschiedliche Kleidungsstücke und Stoffe mit Sicherheitsnadeln zusammenpinnt. An der Filmhochschule hatte ich einige Freunde, die Animation studierten und diese kostengünstig beisteuern konnten, obwohl sie sogar damals schon sehr teuer gewesen ist. Ich wurde sehr stark von den ganzen Anti-Disney-Animationskünstlern wie Tex Avery, Frank Tashlin und Chuck Jones inspiriert. Der ganze amerikanische anarchische Looney Tunes-Surrealismus – vor allem Avery – ist ein wichtiger Einfluss, auch für meine Realfilme. Doch dann bekam ich Ärger mit den Sex Pistols. Sie waren erzürnt über die Idee, dass ich sie in Cartoons verwandeln würde. Sie nahmen sich viel zu ernst.
Rückblickend ergänzt der bis heute, bis zum aktuellen Film »Shane«, beibehaltene Einsatz von Animationspassagen konsequent die filmische Punkästhetik. Die ersten britischen und US-amerikanischen Fanzines der Szene arbeiteten ebenso wie verschiedene Plattencover häufig mit Cartoons. Die Verwandtschaft mit der Undergroundästhetik und Do-it-yourself-Attitüde der Comickünstler/innen um Robert Crumb verleiht den animierten Anekdoten außerdem eine abstrakte Qualität. Sie skizzieren eine produktive Abweichung sowohl vom bräsigen »Haste mal ne Mark«-Abbildrealismus eines allzu puritanischen Punkverständnisses als auch von den falschen Illusionen des Direct-Cinema-Dokumentarismus der 1960er Jahre. Dass sich dessen Ideal einer unbeteiligten, nahezu unsichtbaren »Fly on the Wall«-Beobachterposition auf eine Zeit bezieht, in der Bob Dylan noch überwiegend mit einer Akustikgitarre auftrat, wird spätestens deutlich, wenn die Band auf der Bühne vor mehreren Tausend Zuschauer/innen freudig winkend das gerade hereingeschlichene Filmteam begrüßt.
Mein großer Freund Shane
In Julien Temples neuem Film erweist sich der Einsatz von Animation wie bereits in »The Great Rock 'n' Roll Swindle« als ebenso ausdrucksstarkes wie hilfreiches Stilmittel. Die Anekdoten um den politisch engagierten und lyrisch versierten Shane MacGowan, Sänger der im Londoner Exil gegründeten Irish-Folk-Punkband The Pogues, bringen unterschiedlichste Animationsstile zum Einsatz. Im Unterschied zu den meistens auf Gitarre, Bass und Schlagzeug ausgerichteten Punkbands traten die Pogues mit manchmal bis zu zehn Musiker/innen als gut gelauntes, infernalisches Ensemble mit Akkordeon, Flöte, Banjos, Bläsern und Mandoline auf. Mit seinem charmant-schiefen Blick, der vernachlässigten Zahnpflege und einer ganz eigenen Mischung aus Rauflust und Melancholie ähnelt der charismatische Shane MacGowan einer der schillernden Nachtgestalten aus seinen eigenen Songs. Die Texte der Pogues funktionieren zugleich als lyrische Impressionen wie auch als eingängiger Power-Punk, der den Irish Folk um Elemente der World Music erweitert. Im Weihnachtsdauerbrenner »A Fairytale of New York« überbieten sich Shane und Kirsty MacColl auf herzerwärmende Weise in immer wüsteren Beschimpfungen. In »Pair of Brown Eyes« vermischen sich einprägsam romantische Ballade und assoziativer Bewusstseinsstrom, und in »Thousands Are Sailing« verknüpfen die Pogues irische Geschichte und politische Implikationen, ohne in die Nähe des musikalischen Besinnungsaufsatzes, in dem andere Dubliner Bands zu Hause sind, zu geraten.
Entsprechend dem assoziativen Anspielungsreichtum der Songs reichen die animierten Referenzen in »Shane« von Disneymärchen über Underground-Psychedelic bis hin zur Anime-Adaption. Die Animationspassagen bilden eine von mehreren, ganz der spielerischen Improvisation des filmischen Punk verpflichteten Problemlösungen. Denn bereits bei der Vorbereitung musste Temple erfahren, dass sein alter Freund Shane zwar einen Dokumentarfilm über sein Leben und Werk drehen, aber kein längeres Interview geben wollte. Mit Hilfe von befreundeten Journalist/innen sammelten Temple und sein Team Interviews mit Shane aus der Hochphase der Pogues in den 1980er Jahren. Die Interviews werden mit Animationen, Found Footage und einer Spurensuche an den Schauplätzen von Shanes Biografie kombiniert. Außerdem arrangierte man Tresentalkrunden mit Verwandten und Freund/innen, von Shanes langjährigen Partnern über den irischen Politiker Gerry Adams bis hin zu Johnny Depp, dem er offenherzig erklärt, dass er bei den »Pirates of the Caribbean«-Filmen immer einschlafen würde.
Julien Temple: Am ersten Abend warteten wir mit einer Crew, und Johnny Depp tauchte nicht auf. Am zweiten Abend kam Shane nicht. Am dritten Abend hatten wir endlich beide vor der Kamera. Sie tranken und unterhielten sich stundenlang. Um sechs Uhr morgens erklärte meine Crew, dass sie ins Bett müsste. Als wir am nächsten Nachmittag wiederkamen, waren die beiden immer noch im Pub und diskutierten. Am Ende waren aber nur fünf Minuten von zwölf Stunden zu gebrauchen. Ich kam mir vor wie der Dokumentarist David Attenborough, wenn nach Monaten des Wartens endlich der Schneeleopard vor der Kamera auftaucht. Wenn man einen Film wie diesen dreht, muss man dessen Code knacken. Man muss einen Weg finden, eine Geschichte so zu erzählen, wie man sie noch nicht erzählt hat. Nachdem wir zwei Tage auf Shane und Johnny warten mussten, hatten wir viel Zeit, Licht zu setzen. In den Aufnahmen war Shane sehr schön ausgeleuchtet. Er hörte wie ein Kind zu. Sein Gesicht hatte manchmal eine kindliche Unschuld, und dann wieder die Bissigkeit und Erfahrung des alten Shane. Ich entschied mich schließlich dazu, den gesamten Film um diese Aufnahmen herum zu konstruieren. Der ältere Shane lauscht seiner eigenen Geschichte, die wir aus den alten Interviewaufzeichnungen der Journalist/innen rekonstruierten.
The Future of Cinema is Unwritten
Gerade angesichts der nicht immer sonderlich differenzierten Diskussion um die Zukunft des Kinos lohnt sich eine umfassendere Wiederentdeckung der Arbeiten Julien Temples. Sie überschreiten auf kreative Weise die Grenzen zwischen Gattungen und Genres, Filmen und Formaten, von den bewusst mit kinematografischen Realitätsebenen spielenden Videoclips bis hin zu den assoziativen Punkpassagen durch die Popgeschichte. Die Durchbrechung der vierten Wand in Clips wie David Bowies »Blue Jean« (1984) spielt lange vor den sozialen Medien raffiniert mit der Konstruktion einer Starpersona. Das wahnwitzige Unternehmen in »Absolute Beginners«, einen autobiografischen Roman über die politischen Spannungen im London der 1950er Jahre als knallbuntes Musical im MGM-Stil zu inszenieren, verdient nicht nur eine zweite Chance. Die Fülle kreativer Ideen bietet bis heute eine Stilvorlage zur Verknüpfung von Pop und Politik, von Stadtgeschichte und biografischen Anekdoten. Die produktive Weiterführung der Ideen des Situationismus beschränkt sich nicht wie einst im »Rock 'n' Roll Swindle« auf subversive Strategien gegen die Gesellschaft des Spektakels. Die Momentaufnahmen des Punk wurden im Laufe der Jahrzehnte um weitere Kontexte zu einer filmischen Kartografie erweitert, die Musik, Anekdoten und Stadtbilder mit den Geschichte(n) des Kinos verbindet.
Julien Temple: Ich war schon immer von den Ansätzen des Situationismus fasziniert, seit der Arbeit mit den Sex Pistols. Sie waren sehr wichtig für die Ideen und die Energien hinter der Gruppe. Ich hatte stets das Gefühl, dass Musik einen außergewöhnlichen Weg eröffnet, um eine Zeit und einen Ort zu erfassen. Die Erinnerung einer Stadt wird als emotionale Erinnerung in der Musik aufbewahrt. Diese Idee der Psychogeografie habe ich in einer Reihe von Filmen mit Musik kombiniert. Für mich sind meine Filme nicht nur Filme über Musik. Sie verwenden die Musik als ein Werkzeug, um die emotionale und soziale Geschichte der Menschen aus verschiedenen Zeiten zu entschlüsseln. Es handelt sich eher um eine Art Zeitreise als um eine klassische Form der Geschichtsschreibung. Das Kino bedeutet für mich bewegte Bilder. Es muss sich nicht auf eine Art von Film oder Projektion beschränken. Kino macht für mich das aus, was es mit den Gedanken der Zuschauer/innen anstellt.
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