Joaquin Phoenix: Das sanfte Monster
»Donʼt Worry, weglaufen geht nicht« (2018). © NFP
Joaquin Phoenix ist einer der besten Schauspieler seiner Generation. Weil er jedes Register beherrscht, von irre bis tiefenentspannt. Und manchmal kommt das in einer Figur zusammen
Peter Ustinov hatte ordentlich vorgelegt. Unvergesslich der Auftritt des Briten als Kaiser Nero in Mervyn LeRoys Sandalenepos »Quo Vadis?« aus dem Jahre 1951: Wie Ustinov mit schiefer Stimme schlechte Verse weniger singt als jault und auf der Lyra krumme Töne klampft, ganz ergriffen von sich selbst, während im Hintergrund der Prospekt von Rom in Flammen aufgeht und sich auf den Gesichtern der Hofleute das Entsetzen malt: Rette sich, wer kann … Cäsarenwahn! Nie fand dieser gefährliche Gemütszustand, diese hochexplosive Mischung aus Bedürftigkeit und Hybris, gültigere Gestalt als hier. Bis, fast ein halbes Jahrhundert später, Joaquin Phoenix kam und in »Gladiator«, Ridley Scotts unwahrscheinlicher Wiederbelebung eines untergegangenen Genres, Commodus spielte. Commodus, den Vatermörder, den Inzestbruder, den enterbten Erben, den ungenügenden Sohn.
»You are not a moral man.« Mit diesem Satz hatte der Vater, Marcus Aurelius, die Entscheidung begründet, nicht ihn, den leiblichen Stammhalter, zum Nachfolger zu bestimmen, sondern den getreuen Feldherrn Maximus. Worüber Commodus derart außer sich gerät, dass er sich den greisen Vater im wahrsten Sinne des Wortes zur Brust nimmt und ihn an seinem Herzen erstickt. Wie Phoenix in die Enttäuschung des Commodus immer mehr grundsätzliche Verzweiflung einfließen lässt und eine kritische Masse herstellt, die schließlich gar nicht anders kann, als in Zorn, Wut und Untat zu münden, das ist, der Grausamkeit dieser Szene zum Trotz, überaus faszinierend. – Nimm das, Ustinov!
Es ist das Vermögen, Emotionen zu mischen wie Maler ihre Farben und zu ihrem Ausdruck die Physis einzusetzen wie eine Leinwand, das die Schauspielerei von Joaquin Phoenix auszeichnet. Und die liegt ein wenig quer zu jenen Körpertransformationen, die gemeinhin mit dem Method Acting assoziiert werden. Freilich, es finden sich auch in Phoenixʼ Filmografie genügend Beispiele für formale Charakterumrisse mittels Gewichtszunahme oder -verlust, Muskelaufbau und Bartwuchs. Geradezu unheimlich ist es allerdings, wenn Phoenix mitunter im Laufe einer einzigen Szene die Gestalt wandelt, oder wenn er zu funkeln beginnt wie eine Diskokugel. Wie eben der Showman Commodus, der eine ebenso unangenehme wie anziehende Figur ist: abstoßend in ihrem Geltungsbedürfnis, furchteinflößend in ihrem Machtbewusstsein, einschüchternd ehrgeizig; dabei feig, eitel, kriecherisch und zugleich – darin erinnert er an Shakespeares Richard III. – mitleiderregend und armselig im kaum verhohlenen Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung. Jedes Mittel ist Commodus recht, wenn nur das Volk ihn toll findet, wenn er nur geliebt wird.
Die Verkörperung dieser glorios jämmerlichen Gestalt, die am Ungeliebtsein zugrunde geht, bringt Joaquin Phoenix 2001 seine erste Oscar-Nominierung ein, zwei weitere werden folgen: 2006 für die Darstellung der von vielfachen (Sehn-)Süchten getriebenen US-amerikanischen Country-Ikone Johnny Cash in James Mangolds »Walk the Line«. Und 2013 für eine der am schwersten greifbaren Phoenix'schen Figuren überhaupt, den sehr seltsamen Freddie Quell, god's lonely man zwischen Drogenküche und Tollhaus, in Paul Thomas Andersons nicht minder seltsamem Film »The Master«.
Dass sich die Figuren, die Joaquin Phoenix im Laufe seiner mittlerweile gut 35-jährigen Karriere gespielt hat, eher selten in tradierte Rollenmuster oder Darstellungsklischees fügen, hängt möglicherweise mit der Sozialisation des Schauspielers zusammen. Joaquin Raphael Bottom Phoenix wurde am 28. Oktober 1974 in San Juan, Puerto Rico, als drittes von fünf Kindern in eine Hippie-Sippe geboren. Schon die Vornamen seiner Geschwister – River, Rain, Liberty und Summer (Joaquin selbst nennt sich ein paar Jahre lang Leaf) – sind klare Ansagen. Oder vielmehr Absagen der Eltern an jene öde und konservativ-restriktive Gesellschaft, aus der sie sich zur Flower-Power-Hochblüte verabschiedet hatten, um das alternative Leben und Lieben zu erproben. Um als Menschen neu geboren zu werden wie Phönix aus der Asche eben; daher auch der Nachname, den Vater John Lee Bottom und Mutter Arlyn Sharon Dunetz für ihre vielköpfige Familie wählten.
Hippie-Kinder also; on the road aufgewachsen und von den Eltern unterrichtet; ungezähmte, freie Geister, deren Kreativität nach Kräften gefördert wird. Gleich fällt einem Viggo Mortensen ein, wie er 2016 als »Captain Fantastic« im gleichnamigen Film von Matt Ross seine auch sehr fantasievoll benannten Sprößlinge im Bus durchs Land kutschiert. Aber ebensowenig wie der Captain mit seinen Kindern in paradiesischer Unschuld lebt, lebten die Phönixe sorgenfrei. In Lateinamerika, wo die Familie zeitweise heimisch war, waren die Eltern als Missionare der dubiosen Sekte Children of God tätig. Von der sagten sie sich 1978 los, um in die USA zurückzukehren und in Los Angeles den Weg ins Showbusiness zu suchen. Dass die Kinder relativ früh als Musiker und Darsteller im Fernsehen auftraten, diente nicht allein der Entwicklung überbordender Talente, sondern erfüllte den praktischen Zweck, die prekäre wirtschaftliche Situation der Familie zu verbessern. Wobei die Verantwortung für den Unterhalt der Familie zunächst vor allem auf den schmalen Schultern des 1970 erstgeborenen River lastete. Der war bekanntlich ein schauspielerisches Riesentalent, das tragisch unentfaltet blieb; am 31. Oktober 1993 brach River Phoenix vor Johnny Depps angesagtem Club »The Viper Room« in West Hollywood auf der Straße zusammen und starb den Drogentod. Der eben erst 19 Jahre alt gewordene Joaquin war Zeuge.
Rivers kleiner Bruder war Joaquin freilich schon lange nicht mehr. Begonnen hatte er beim Fernsehen, 1982, mit einem Auftritt in der Serie »Seven Brides for Seven Brothers«, die River bekannt gemacht hatte. Von 1986 an kamen Engagements in Kinofilmen hinzu. Von 1990 bis 1995 hingegen verzeichnet Joaquin Phoenix' Filmografie keine Einträge; er überlegte offenbar, die Schauspielerei aufzugeben, versuchte dies, probierte jenes, kehrte dann aber doch zurück vor die Kamera. 1995 spielt er in Gus Van Sants »To Die For« – einem Juwel des blühenden Indie-Kinos und eine der Sternstunden des niederträchtigen Potenzials von Nicole Kidman – den armen Proll-Buben Jimmy Emmett. Der, ein verdruckster, verklemmter Sonderling, wird von Kidmans medienbesessener, skrupelloser Suzanne Stone verführt und aufs Übelste manipuliert. Jimmy verknallt sich rettungslos und kann sein Glück nicht fassen. Blind vor Liebe begeht er einen Mord und kommt eigentlich erst im Knast wieder zu sich – wo Phoenix seine Bauernopfer-Figur nicht zuletzt aufgrund der Klarsichtigkeit, mit der er sie ihre Lage begreifen und ohne Rachegedanken nüchtern einschätzen lässt, aus ihrer vordergründigen White-Trash-Beschränktheit herausholt.
Was sich in »To Die For« außerdem besichtigen lässt, ist die, nennen wir sie mal unselige Psychodynamik zwischen Joaquin Phoenix und Casey Affleck, der als Jimmys bester Freund Russell Hines ein Exempel des Begriffs »schlechter Einfluss« statuiert. Der setzt sich, wenn man so will, im wahren Leben fort. 2006 heiratete Casey – auch schon lange nicht mehr der kleine Bruder eines großen Stars – Joaquins jüngste Schwester Summer, und im Oktober 2008 startete er mit dem Schwager ein gewagtes Projekt: Der 2010 gelüftete Hoax »I'm Still Here« gibt vor, Joaquins von Mißerfolgen geprägten und in Verwahrlosung resultierenden Wechsel vom Filmschauspieler zum Rap-Musiker zu dokumentieren; in Wirklichkeit handelt es sich jedoch um ein mit vollem Körpereinsatz und erheiternder Boshaftigkeit durchgeführtes Experiment zum Verhältnis Prominenz, Publikum und Presse. Joaquins umnebelter und verpeilter Wicht, über den sich schließlich ganz Hollywood lustig machte, ist die denk- und oscar-würdige Darbietung einer Kernschmelze in Zeitlupe. In ihrer Rückhaltlosigkeit beweist die riskante Aktion nicht nur das Talent, sondern vor allem auch den Mut des Schauspielers. Allerdings sagt der Umstand, dass man Phoenix den Rap-Musiker-Unfug überhaupt zutraut, auch etwas aus über seinen Ruf als »schwierig« und »unberechenbar«. Der Häme nach zu urteilen, die Joaquins coram publico statthabendem Scheitern entgegenschlug, hätte »I'm Still Here« auch das Ende seiner Karriere bedeuten können, schließlich sägt er die ganze Zeit über an dem Ast, auf dem er sitzt. Stattdessen aber stellt das zwei Jahre währende Extrem-Spiel eine Zäsur in Phoenix' Werk dar; es ist, als habe er sich damit von allen Zwängen befreit und eine Grenze durchbrochen. »Mich zum Affen zu machen,« meinte Phoenix einmal, »war total erleichternd; ich war ja von der Schauspielerei unter anderem deswegen frustriert, weil ich sie so ernst nahm. Ich wollte derart gut sein, dass ich mir selbst im Weg stand; wie wenn du verliebt und nicht mehr du selbst bist, du willst beeindrucken, verlierst die Ungezwungenheit und alles, was der andere sieht, ist ein verzweifeltes, vergebliches Versuchen.«
Wie verzweifelte, vergebliche Versuche wirken Phoenix' Charakterisierungen von Figuren wie Clay Bidwell in »Clay Pigeons« (1998, David Dobkin), Merrill Hess in »Signs« (2002, M. Night Shyamalan) und Ethan Lerner in »Reservation Road« (2007, Terry George) nun gerade nicht. Bidwell, den eine verhängnisvolle Mischung aus Lust und Neugier in eine Folge wüstester Situationen bringt, ist den unwahrscheinlichen Handlungswendungen zum Trotz das aufrichtig einnehmende Porträt eines überforderten jungen Mannes, der die Boshaftigkeit der Menschen, mit denen er zu tun bekommt, immer weniger fassen kann. Merrill Hess, fürsorglicher Onkel und loyaler jüngerer Bruder von Graham (Mel Gibson, mit dem Phoenix hervorragend harmoniert), manövriert seine hysterisch zerfallende Sippe mit dem Mut der Verzweiflung durch eine Alien-Invasion und wirkt sogar noch mit einem dieser berüchtigten Paranoiker-Alu-Hüte auf dem Kopf glaubwürdig. Während der Akademiker Ethan Lerner, ein um seinen kleinen Sohn trauernder Vater, zwischen männlich konnotierter Rache-Tradition und einem schlicht menschlichen Bedürfnis nach Trost regelrecht zerrieben wird und eben deswegen als authentischer Mann der Gegenwart erscheint.
Ob Indie, Science Fiction oder Drama, von den Erwartungen an bestimmte Genres lässt Phoenix sich nicht irritieren, er jongliert mit den Normen und beharrt auf Mehrdeutigkeit, wo das Eindimensionale die Regel ist. Dazu passt, dass es ihm keine Mühe bereitet, zwischen unterschiedlichen Darstellungsweisen zu wechseln. Soll heißen, dass Phoenix den großen Gestus des Chargenfachs ebenso beherrscht wie die Kunst der Mimikry oder die des Minimalismus. Um auf die zu Beginn gebrauchte Metapher zurückzukommen, verwendet Phoenix beispielsweise für Commodus in »Gladiator« grobe Pinsel und starke Farben, während sein Johnny Cash in »Walk the Line« ein feinziseliertes, ungeheuer nuancenreiches Bild ist – derart detailgetreu, dass es den berühmten Sänger quasi fotorealistisch dingfest macht. Sieht man den Phoenix'schen Cash, sieht man auch das Phoenix'sche Chamäleon in Hochform: einen Mimen, der trotz prägnanter Alleinstellungsmerkmale wie den stark nach vorn gewölbten Schultern oder der Narbe zwischen Oberlippe und Nase – Merkmale, die im Übrigen auch innerhalb ein und derselben Rolle unterschiedlich stark ausgeprägt, also szenenabhängig in Erscheinung treten können – in einer Gestalt verschwinden kann. Manchmal auch scheint er zur Gänze zu verschwinden und gar nichts mehr zu machen. Zum Beispiel im Fall des Briefkastenonkels Theodore, der sich in Spike Jonzes »Her« in die Stimme seines Computerprogramms verliebt (man kann es ihm nicht verdenken, es ist im Original die von Scarlett Johansson). Der Mann hört und schaut. Mehr nicht, so scheint es. Doch Theodore, der sich abgeschlossen hatte von den Menschen, beginnt zu fühlen, und die Gefühle malen sich in seinem Gesicht und das Erwachen einer ganzen Welt wird sichtbar. Stundenlang könnte man Phoenix dabei zuschauen, wie er scheinbar nichts tut, wie er sich bloß mimisch ausdrückt und unterschiedliche Bedeutungen durch sein Gesicht ziehen lässt. Als wanderten Wolken über den Himmel.
Was für Joaquin Phoenix' Arbeiten bis zur »I'm Still Here«-Zäsur 2008/2010 gilt, gilt erst recht für die danach. Tatsächlich scheint er in bis dato nicht gekannte Dimensionen der Tiefenentspanntheit vorgedrungen zu sein, scheint ihm der Begriff »differenzierte Charakterisierung« nurmehr als Ausgangspunkt für eine Expedition zu dienen: Auf der Suche nach ihrer Seele wird ihm das Innenleben einer Figur zum unbekannten Terrain, dergestalt, dass diese am Ende eines Films oftmals ein noch größeres Rätsel darstellt als zu Beginn.
Das gilt in exemplarischer Weise für Freddie Quell in »The Master«, es gilt aber auch für Doc Sportello in »Inherent Vice« (2014, ebenfalls von Paul Thomas Anderson), den tollen Stoner mit Backenbart und Strohhut, mit dem man nicht nur sofort einen Joint teilen würde, sondern der überhaupt diese ausufernd-anarchische Verfilmung eines der unverfilmbaren Romane von Thomas Pynchon in ihrem Innersten zusammenhält. Obgleich eine relaxte Ausstrahlung möglicherweise nur die Kehrseite der Medaille ist, weil stille Wasser tief sind. Eine alte Weisheit, deren warnender Gehalt von der vergangenes Jahr beim Festival in Cannes prämierten Figur des Joe in Lynne Ramsays »You Were Never Really Here« bestätigt wird. Phoenix gibt hier den Mann als Vulkan, einen wortkargen Koloß, in dem Traumata toben, die jederzeit aus-, auf- und hervorbrechen können; den Hammer behält er daher in Griffweite. Im Verborgenen kann anstelle von Gewalt aber auch ein hintergründiger, schalkhafter Humor lauern, ein Übermut, ja, ein die Gefahr nicht achtender Mutwille, wie er den Comiczeichner John Callahan in Phoenix' aktuellem Film »Don't Worry, He Won't Get Far on Foot« (»Don't Worry, weglaufen geht nicht«, Gus Van Sant) auszeichnet. Woher nur nimmt dieser liederlich sorglose Trinker, den das Laster in den Rollstuhl gebracht hat, seine Unverwüstlichkeit und obendrein noch gute Laune? Und woraus schöpft Phoenix, der sie ihm schenkt, seine Zuversicht? Es bleibt das Geheimnis des Schauspielers, nur in seinen Figuren tritt es zutage.
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