Nachruf: Chantal Akerman
Foto: AP/Jonathan Short
Ungeheurer Alltag
Chantal Akerman war 25 Jahre alt, als ihr mit »Jeanne Dielman, 23 quai du commerce, 1080 Bruxelles« ein einzigartiger Film gelang, ein Brocken, der schwer zu schlucken war und mit unbeirrbar ruhiger Kamera magische Spannung erzeugte. Wer bei der Premiere im Internationalen Forum der Berlinale 1975 drei Stunden durchhielt, dem eleganten Gang des Nouvelle-Vague-Stars Delphine Seyrig folgte, sich dem gleichmäßigen Taktschlag ihrer Routinen überließ und in Realzeit die Zubereitung von Frikadellen, den stummen Mittagstisch mit ihrem Sohn und all die minimalistisch komponierten Abläufe ihrer ungeheuerlichen Geschichte begleitete, verließ am Ende aufgestört das Kino.
Bis dahin wurde in Filmen meist aneinander vorbei geredet, larmoyant gelitten, argumentiert. Auch die Filmemacherinnen, die in den 1970er Jahren ihr Terrain reklamierten, setzten oft auf die beweiskräftige Kohärenz des Gezeigten und Gesprochenen. Beredte Schweiger, die in alle Welt reisten und das Bildermachen neu erfinden wollten, waren eher bei den Männern anzutreffen, die sich trotzig gegen ihre verschwatzten Vorläufer in der Nouvelle Vague abgrenzten.
Die junge belgische Filmemacherin brüskierte die schlichte Erwartung, die ästhetische Handschrift einer Regisseurin ließe sich unmittelbar als kämpferisches Pamphlet der Frauenbewegung lesen. Und doch ist Jeanne Dielman ein Meilenstein des feministischen Weltkinos. Akerman verschmolz die Konzepte ihrer Vorbilder Jonas Mekas und Michael Snow, die den illusionistischen Vorschein des Hollywoodkinos durch radikale Zeitdehnung brachen, mit ihrem autobiografisch inspirierten Sinn für die paradoxe Ungeheuerlichkeit der bürgerlichen Frauenexistenz.
Ihr Film setzt mit dem Fauchen eines Gasherds ein – ein Motiv, mit dem ihr erstes, radikal subjektives Filmstück »Saute ma ville« 1968 geendet hatte. Die 1950 in Brüssel geborene Tochter polnisch-jüdischer Eltern hatte gerade die Filmhochschule abgebrochen, weil sie sich dort langweilte, als sie das verzweifelt komische Selbstporträt in wenigen Tagen mit Hilfe von Freunden realisierte. Man sieht ihr in ihrer Wohnung dabei zu, wie sie sich bei dem Versuch verliert, Ordnung ins Chaos zu bringen. Am Ende eine Explosion, nachdem sie eigentlich nur einen Brief, das Zeugnis ihrer heftigen Gefühlsturbulenzen, im Herd verbrennen wollte.
Das Schweigen ihrer Mutter, vor allem die dahinter zu vermutende Taubheit der Gefühle, bedeutete ein unauslöschliches Trauma für Akerman. Ihre Mutter Nellie hatte Auschwitz überlebt, ihre Großmutter und 50 weitere Verwandte konnten dem Holocaust nicht entkommen. Sie trage das Grauen in jeder Zelle ihres Körpers, erklärte Chantal Akerman ihr Leiden unter manischdepressiven Attacken. Das letzte Werk »No Home Movie«, bei den diesjährigen Filmfestspielen in Locarno uraufgeführt, war dem langsamen Sterben ihrer Mutter und ihrer eigenen verzweifelten Liebesgeschichte mit ihr gewidmet.
Akerman erzählte oft, dass Jean-Luc Godards bizarres Suizidabenteuer »Pierrot le fou« das Erweckungserlebnis ihrer Karriere war: Film ist Poesie! Ihre frühen Kurzfilme schildern urbane Abenteuer, ausbüxende Freundinnen, die das Rauchen, Küssen, Abgeschlepptwerden ausprobieren, um gemeinsam kleine Fluchten vor den Zumutungen weiblicher Verhaltensnormen zu genießen – ein Motiv, das Akerman in Filmen über komplexe, auch queer-lesbische Beziehungen immer wieder aufnahm. Mit »Histoires d’Amérique« (1989), einem Geschichtenreigen aus der jüdischen Diaspora in New York während der 1920er Jahre, und »Eine Couch in New York« (1996), einer Komödie über die Liebesmissverständnisse zwischen einem amerikanischen Psychoanalytiker und einer europäischen Tänzerin, kehrte sie in die Stadt zurück, in der sie zu Beginn ihrer Karriere einige Jahre gelebt und das Kino in allen Schattierungen studiert hatte.
Nach dem Fall des Ostblocks drehte sie 1993 eine ausgreifende essayistische Erkundung entlang der Grenzen zwischen den baltischen Ländern, Polen und Russland. »D'Est« wurde der Auftakt einer zweiten Karriere als Schöpferin komplexer Filminstallationen, mit denen sie in zahlreichen Museen präsent war. An einem New Yorker College und einer Schweizer Graduate School als Filmprofessorin tätig, pendelte die mit zahlreichen Preisen gewürdigte Künstlerin zwischen den USA und Frankreich. Am 5. Oktober 2015 setzte sie ihrem Leben in Paris ein Ende.
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