Kritik zu Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht

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Edgar Reitz blickt 170 Jahre zurück, als es viele Hunsrücker auf der Flucht vor Hunger und Obrigkeit in die Neue Welt verschlug. Erzähler ist der junge Jakob Simon, ein Vorfahr aus dem bekannten Simon-Clan

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Mit dem schwärmerischen Begriff »Fernweh « hat Edgar Reitz einst die erste Etappe seiner »Heimat«-Trilogie überschrieben. Damals verlor er den Kriegsheimkehrer Paul Simon bald wieder aus den Augen, weil der sich, ohne Rücksicht auf Frau und Kinder, schleunigst in einen Auswanderer, in einen der bei Reitz unbeliebten »Weggeher«, verwandelte. Heute – 29 Jahre später – verweist schon der Titel Die andere Heimat auf eine Revision, eine Alternative. Vor 170 Jahren war in deutschen Landen das Thema Auswanderung an der Tagesordnung, der Exodus, der ganze Landstriche Europas entvölkerte, wobei die Hungerleidergemeinden im Hunsrück besonders betroffen waren. Irgendwann hatte die Bevölkerung die frostigen Winter, die wiederkehrenden Hungersnöte, das absolutistische Gebaren der preußischen Obrigkeit, den nur Hoffnung versprechenden Trost von der Kanzel, das ganze Unglück einfach satt.

Die langen Trecks, die zu jener Zeit den Horizont der Hunsrückhöhen in Bewegung versetzten, sind im Cinemascopeformat des neuen Reitz-Films von Anfang an zu sehen. Dorthin schweift sehnsuchtsvoll auch der Blick des schlaksigen hochgewachsenen Handwerkersohns Jakob Adam Simon. Der aus der Art geschlagene Jakob, dem der Sinn fürs väterliche Schmiedehandwerk abgeht, ist ein Bücherwurm, ein Tagträumer, eine Mischung aus Schlemihl und Taugenichts, aber doch einer, der sich zielstrebig auf seine Auswanderung nach Brasilien vorbereitet. Gängige Weltsprachen wie Englisch, Portugiesisch und Spanisch sind ihm schon geläufig, vor allem hat es ihm die Sprache der Cayucachua- Indianer angetan.

Jakob (Jan Dieter Schneider) ist Hauptfigur und Erzähler, der uns seine Aufzeichnungen, beginnend am 1. April 1842, ins Ohr flüstert, seine Schwärmereien von der neuen Heimat wie seine Alltagsbeobachtungen aus dem armen gebeutelten Landstrich, in dem das junge Deutschland mit seinem demokratischen Freiheitsbegehren keine Chance hat. Die erste Hälfte des in dreizehn Kapitel aufgeteilten, beinahe vierstündigen Films entwirft ein ländliches deutsches Panorama mit bescheidenen Dorftanzfreuden, aufmüpfigen Studenten, schießbereitem Militär und – zuletzt – der Festungshaft des eigentlich unpolitischen Jakob, der erst in der Unfreiheit das heilige Recht der Freiheit wirklich entdeckt. Mit Jakobs Ausflügen in die verwunschenen deutschen Wälder, zu Felsenmeer und knorriger Eiche, zum freien Flug des Falken, gelingen Reitz filmische Kleinode, die an die Stimmungsbilder eines Caspar David Friedrich erinnern. Von der einstigen, um Naturalismus bemühten »Heimat«-Ästhetik ist nur die schwarz-weiße Leinwand mit den eingestreuten Farbtupfern geblieben. Filmbauten schaffen hier Dorfatmosphäre und tragen ihr Teil dazu bei, dass der Brückenschlag zur Romantik so trefflich gelingt und ganz neue Untertöne hervorbringt, die man etwa in »Heimat 3« schmerzlich vermisste.

Die herbeigesehnte ferne, »andere Heimat « bleibt für den idealen Aussiedler Jakob jedoch eine Schimäre, eine Wunschvorstellung, die sich nicht erfüllen wird. Jakob ist der Weg des Glücks verwehrt. Ein Happyend gibt es trotzdem, wenn es zunächst auch nur wie das kleine Glück aussieht, das die Einsicht in die Notwendigkeit einbezieht. Man lebt nicht nur einmal, schreibt Jakob wohlweislich im Postscriptum seiner Aufzeichnungen. Ganz zuletzt bringt Reitz noch einen anderen Heimatbegriff ins Spiel, der so viel wie geistige Heimat, innere Erkenntnis meint. Da steht Jakob doch an der Seite des privatisierenden Gelehrten Schlemihl des Adelbert von Chamisso, nur dass er sich für das Ingenieurwesen und für die Deutung indianischer Dialekte verdient macht, womit er die Wertschätzung des großen Naturforschers und Weltenbummlers Alexander von Humboldt gewinnt. Dieser reist eigens nach Schabbach, um den Gelehrtenkollegen zu ehren. Doch Jakob, ganz der Alte, nimmt Reißaus vor der ihm eigentlich fremd gebliebenen großen weiten Welt.

Wie in einem ganz persönlichem Postscriptum tritt Edgar Reitz (als Bauer verkleidet) höchstpersönlich auf, um dem großen Humboldt (gespielt von Werner Herzog) den Weg nach Schabbach zu weisen. Eine Begegnung auf Augenhöhe und eine Einladung – in die Heimat.

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