Kritik zu Film socialisme
Seit mehr als zwanzig Jahren, seit Nouvelle Vague, ist kein Film von Jean-Luc Godard mehr in Deutschland ins Kino gekommen. Gut also, dass dieser hier mehr als EIN Film ist: Essay, Collage, Travelogue
Den Film socialisme kann man sich schon im Internet ansehen, als einen von Godard autorisierten Trailer, der das Original auf viereinhalb Minuten komprimiert. Eine gute Kostprobe vor dem Film selbst. Der unverbesserliche Querdenker Godard, einer der Großen der Nouvelle Vague, wurde im letzten Jahr 80 Jahre alt. In den sechziger Jahren hat er mit Filmen wie Ausser Atem und Die Verachtung eine ganze Generation für das Kino begeistert. Mit dem herkömmlichen Erzählkino hat er längst gebrochen, seine essayistischen Filme haben mit Musik, Philosophie und bildender Kunst mehr zu tun als mit Unterhaltungskino. Es wird also Zuschauer geben, die seinen neuen Film, der vielleicht sein letzter ist, für einen unverständlichen Bildersalat halten. Andere sehen in ihm einen anregenden Filmessay voller Schönheiten. In jedem Fall ist es ein Rätselfilm, denn Verständlichkeit ist für Godard keine Kategorie. Und wahrscheinlich wird man, während man den Film sieht, sich dabei ertappen, gleichzeitig oder in schnellem Wechsel zu beiden Meinungen zu kommen.
Von Sozialismus in irgendeinem herkömmlichen Verständnis handelt der Film definitiv nicht. Godard legt auch Wert darauf, dass der Titel Film socialisme und nicht Socialisme lautet. Er wirft Ideen in die Luft und jongliert damit, und wenn es gutgeht, kann man selbst mit diesen Ideen spielen. Sein Film ist eine assoziative Collage in drei Teilen unterschiedlicher Länge, dabei dominieren inszenierte Szenen nur im zweiten Teil. Auf der Tonebene mischen sich Originaltöne, Musikfragmente, Dialogfetzen, Aphorismen und Zitate aus dem Off. Ein vielsprachiges Stimmengewirr, in dem man auffällig oft Deutsch hört, meist mit deutlichem Akzent.
Der erste Teil: »Des choses comme ça / Dinge wie«. Eine Kreuzfahrt im Mittelmeer, die Reise wird alsbald zur Metapher. Das Meer liegt dunkel, dann rauscht es auf in den Wellen des Schiffes. Das Schiff ist oft wie magisch erleuchtet, marineblau und gelb glüht das Deck in der Nacht. Immer wieder sieht man verfremdete, knallbunte Bilder, die wirken wie stark vergrößerte Handyaufnahmen, Bilder, die auf ihre Herstellung verweisen. Die Sängerin Patti Smith trägt ihre Gitarre über das nächtliche Deck. Der linke Philosoph Alain Badiou hält einen Vortrag über Edmund kulturgeschichtliche Meditation über Europa ist dieser erste Teil, er endet mit dem Titel: »Quo vadis, Europa«.
Der zweite Teil spielt in einer Autowerkstatt mit Tankstelle im Süden Frankreichs. Zwei Frauen vom Regionalfernsehen wollen eine Reportage machen, es gibt lange, wenig ergiebige Diskussionen zwischen Eltern und Kindern. Ein Satz setzt sich fest: »Heute sind die Schufte ehrlich. Sie glauben aufrichtig an Europa.« Eigenartigerweise stehen an der Tankstelle ein Lama und später auch ein Esel. Deutsche Touristen fragen nach dem Weg zur Côte d’Azur. »Fallt in ein anderes Land ein!«, ist die Antwort einer jungen Frau, die gerade Balzac liest. Die Touristen: »Scheiß-Frankreich! « Dann hört man noch von der jungen Frau: »Ach, Deutschland!«, und das Lama schaut etwas verdutzt.
Im letzten und kürzesten Teil »Nos humanités / Unsere Geisteswissenschaften« verwendet Godard seine in den Histoire(s) du cinéma perfektionierten Zitat- und Collagetechniken, um sich erneut einigen Orten zuzuwenden. Die Treppe von Odessa in der Gegenwart und in Eisensteins Potemkin. Ein schöner Ausschnitt aus Les plages d’Agnès von Agnès Varda – Trapezartisten vor einem blauen Meer, die schwerelos zueinander schwingen – erscheint hier als Vision des Friedens zwischen Israel und Palästina, eine Utopie.
Die prophetischen Qualitäten Godards sind frappierend, sein Film wirkt wie für die aktuelle Krise Europas gemacht. Die Bestandsaufnahme fällt ziemlich desolat aus. Sie ist aber kein Abgesang. Lässt es nicht auch hoffen, wenn eine junge Frau sagt: »Ich will nicht sterben, ohne Europa glücklich gesehen zu haben«? Der letzte Titel des Films ist ein lapidares: »No Comment.«
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