Kritik zu Tom Sawyer
In Hermine Huntgeburths Adaption des Lausbubenklassikers doubelt die Havel den Mississippi. Macht nichts: Die zeitlose Story spielt ohnehin nicht in den USA, sondern im Reich der Fantasie
Ein goldener Glanz liegt über St. Petersburg, es riecht nach guter alter Zeit. Unten am Hafen, wo sich träge der Mississippi vorbeischiebt, herrscht emsiges Treiben. Und auch in den verwinkelten Straßen ist jede Menge los. Trunkenbolde schlafen ihren Rausch aus, Lausbuben spielen ihnen Streiche, Tanten ziehen ihre Wagen mit selbstgekochter Marmelade hinter sich her, und die Männer des Gesetzes schauen nach dem Rechten. Hier muss sich wohl die Nostalgie als Baumeister betätigt haben, so pittoresk, so wohlkomponiert ist diese Welt – und dabei so unverkennbar deutsch, dass man sich kaum wundern würde, wenn Bully Herbig um die Ecke käme, um das Ganze als Parodie zu outen.
Aber nichts da, nicht um Entlarvung geht es, sondern um Beschwörung: Produzent Boris Schönfelder und Regisseurin Hermine Huntgeburth üben sich in lustvollem Anachronismus und gehen ganz ernsthaft an ihren Mark Twain heran. Schon das St. Petersburg des Romans war ja eine fiktive Stadt, und auch diese Adaption erfindet ihren eigenen Kosmos. Da kann ruhig die Havel den Mississippi geben und ein deutsches Ensemble auf amerikanisch machen: Das Ergebnis spielt nicht in den USA, sondern im Reich der Fantasie.
Recht betulich geht es los, bis dieser neue Tom Sawyer nach einer Weile die Fäden in der Konfrontation zwischen dem jungen Tom und dem bösen Indianer Joe verknotet. Ganz allmählich führt das Drehbuch von Sascha Arango sein Personal vor, ist dabei immer nah an der Vorlage und nimmt sich doch diverse Freiheiten heraus. Tante Polly, von Heike Makatsch mit wunderbarer Resolutheit ausgestattet, hat eine Verjüngungskur erfahren, und das »Nigger-Thema«, in der Twain-Rezeption von jeher ein (überflüssiger) Streitpunkt, wird schlichtweg eliminiert. Die klassischen Momente, von der Züchtigung der Jungen durch die gestrenge Betty über das Anstreichen des Gartenzauns, von den kleinen Fluchten aus dem Alltag bis zur großen Flussreise samt Schatzsuche, sind dagegen alle da und werden mit naiver Feierlichkeit präsentiert.
Die Sensation des Films ist, einigermaßen überraschend, Benno Fürmann als Halbblut Joe. Eisiger Blick aus unterschiedlich gefärbten Pupillen, stattlicher schwarzer Zopf, dunkle Haut und eine kapitale Hakennase: Bei FürFürmann wird daraus kein Mummenschanz, sondern eine geradezu ungeheuerliche Präsenz, die ihm einen festen Platz in den Albträumen der jüngeren Zuschauerschaft garantiert. Ohne sichtbare Anstrengung verkörpert er eine immense Bedrohlichkeit, eine wuchtige Aggressivität, und dennoch gelingt es ihm, diesen Bösewicht mit Ambivalenz auszustatten. »Ich kann nicht anders, weil ihr mir keine andere Wahl lasst«, scheint er zu sagen, und so kommt es, vorübergehend, gar zur irritierenden Annäherung zwischen ihm und Becky, was dem kleinen Tom ebenfalls heftige Albträume beschert (die in ihrer Drastik übrigens die ganz Kleinen als Zielgruppe ausschließen).
Wäre es nicht ein wenig unrealistisch, müsste man Fürmann für den Oscar als bester Nebendarsteller vorschlagen. Sehr bedauerlich, dass er in der bereits in Produktion befindlichen Fortsetzung nicht noch einmal sein Unwesen treiben kann.
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