Ihre eigene Welt
Am Anfang mancher Dokumentarfilme steht ein Zögern, das ich sehr mag. In dieser Spielart des Auftakts scheint nichts entschieden, sie geben die Richtung allenfalls diskret vor. Die Kamera nähert sich beispielsweise behutsam einen Schauplatz, wagt es noch nicht, ihn offensiv in den Blick zu nehmen. Er soll seine Aura erst allmählich entfalten. Einen ähnlichen Respekt lassen einige Dokumentarfilmer auch walten, wenn sie einen Protagonisten zeichnen wollen. Er muss bei seinem ersten Auftritt noch nicht vollends präsent sein, befindet sich in einem expositorischen Wartestand, der ihn gleichsam schützt. Man sieht ihn bei einer beiläufigen Verrichtung, er muss seine Stimme noch nicht zu voller Lautstärke erheben. Es bleibt ihm eine Frist, in seine Rolle zu finden.
So lässt der italienische Dokumentarist Gianfranco Rosi gern seine Filme beginnen. Auf den ersten Blick teilen sie sich in zwei Tendenzen. In Sacro GRA - Das andere Rom und Below Sea level nimmt er einen Ort zum Ausgangspunkt – im ersten ist es der Stadtring von Rom, im zweiten ein Trailerpark in der Wüste Kaliforniens, der unter Meereshöhe liegt. Die Titel der zwei anderen Dokumentationen, die er bisher gedreht hat, verweisen auf einen Porträt-Charakter: In El Sicario legt ein Auftragskiller eines mexikanischen Drogenkartells eine Beichte ab, in Boatman erzählt ein Fährmann aus Benares Geschichten aus dseinem Leben. Der Untertitel des ersten (Room 164) weist allerdings schon darauf hin, dass der Drehort ebenfalls eine Hauptrolle spielen wird. Der Fährmann wiederum verschafft uns Zugang zum Leben und Sterben auf dem Ganges. Auch die Dramaturgie der zuerst erwähnten Filme zielt darauf, die zwei Tendenzen zu verschmelzen: Sie zeichnen ein Ensemble von Porträts an transitorischen, an Orten der Unruhe.
El Sicario hat, allein schon wegen seines spektakulären Gegenstands, auch in Deutschland Furore gemacht. Sacro GRA eilt der Ruf voraus, als erster Dokumentarfilm überhaupt beim Festival von Venedig den Goldenen Löwen gewonnen zu haben. Das war 2013 eine durchaus umstrittene Jury-Entscheidung. Für mich ist dieser Filmemacher jedoch eine große, erfreuliche Entdeckung. Der Venedig-Sieger läuft seit anderthalb Wochen in Deutschland und es ist zu hoffen, dass er noch nicht so bald wieder aus den Kinos verschwindet. Rosi, der in Eritrea geboren wurde und mit dem unlängst verstorbenen Francesco nicht verwandt ist, besitzt das Talent Figuren aufzuspüren, die kluge, einfallsreiche Darsteller ihres eigenen Lebens sind. In Sacro GRA etwa lernen wir einen Rettungssanitäter kennen, der einsam ist und viel Liebe zu geben hat. Ein Wissenschaftler untersucht, wohl in eigenem Auftrag, Palmen nach Schädlingen. Ein Aalfänger macht sich Gedanken über Italien und darüber, wie es sich vom Rest der Welt unterscheidet. Ein verarmter Adliger lebt mit seiner Tochter in einer Einzimmerwohnung und verbringt seine Tage damit, die Umgebung mit dem wachen Blick eines Philosophen zu mustern und mit der Tochter einen Schatz hinreißend nutzlosen Wissens zu teilen. Zwei gealterte Prostituierte warten auf Freier; ein dubioser Prinz geht in seinem Anwesen dem Müßiggang nach, vermietet es für Dreharbeiten (Fotoromane sind in Italien tatsächlich immer noch populär: die ukrainische Frau des Fischers verschlingt sie) und bekommt einmal Besuch von Ordensbrüdern aus Litauen. Ein Franziskanermönch macht am Rand der Umgehungsstraße GRA Fotos vom Himmel. Diese Protagonisten hat Rosi nach dreijähriger Suche vorgefunden. Ebenso gut möglich wäre es, dass er sie gut erfunden hat.
Der Film gibt sich zunächst als eine Ansammlung argloser Momentaufnahmen zu erkennen. Diese Zusammenschau ist beinahe heiter, die Verschrobenheit von Rosis Figuren liebenswürdig. Es gibt keine Mythologie, die sie einigte. Ihre Existenz ist auf je eigene Weise exzentrisch, nicht nur im topografische Sinne. Bei ihm besitzt die Umgehungsstraße keine soziologischen Leitplanken. Er entwirft ein anderes Bild der Außenbezirke, als es einige Jahrzehnte zuvor Pasolini oder Ettore Scola zeichneten. Die Entwurzelung seiner Charaktere lässt sich nicht hochrechnen auf zeitgenössische Klassenverhältnisse. Ihre Randständigkeit ist individuelles Schicksal oder Entscheidung. Irgendwann sind sie aus dem Raster gefallen. Das verbindet sie mit den Obdachlosen, die sich in Below Sea Level zu einer losen Gemeinschaft in der Wüste zusammengefunden haben oder den Europäern, denen Rosi in Benares begegnet ist.
Man braucht Zeit, muss befreit sein von den Zwängen des Arbeitslebens, um so mitteilsam wie Rosis Figuren sein zu können. Das Leben muss einen ausgemustert haben, damit man so ausführlich darüber philosophieren kann. Der Auftragsmörder ist auf der Flucht. Er berichtet aus dem Fegefeuer. Die Systematik, mit der er dies tut, ist erstaunlich. Eine Kladde hilft ihm dabei, in der er jeden Vorgang, jedes Ritual skizziert. Es ist haarsträubend und erschütternd, was man in solcher Anschaulichkeit über das Funktionieren von Drogenkartells erfährt, über ihre vollständige Durchdringung der mexikanischen Gesellschaft. Über ihn selbst verraten diese Zeichnungen mindestens ebenso viel. Sie sind der Bauplan, nach dem er sein Leben über 20 Jahre lang eingerichtet hat. Dieses Moment der Konstruktion von Biografien, vom Basteln eines neuen Entwurfs, nachdem der alte untauglich geworden ist, findet sich vielfach in Below Sea Level wieder. Statisch ist keines der Leben, die Rosi filmt, vielmehr aufgebrochen, notdürftig zusammengesetzt. Wer gestrauchelt ist, geht auf die Suche. Auch darin kann man Routine gewinnen.
Was wäre, wenn die Charaktere aus den unterschiedlichen Filmen sich plötzlich begegnen würden? Den Palmenlauscher, der genau zuhört, wie Käfer und Larven ihr Unwesen im Inneren seiner geliebten Bäume ("Die Palme hat die Form der menschlichen Seele.") treiben, würde man beispielsweise gern auf Mike aus Kalifornien treffen lassen, der Fliegen für einen der elegantesten Fortschritte hält, die die Evolution hervorgebracht hat. Sie hätten sich bestimmt viel zu erzählen.
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