Schaust du noch oder streamst du schon?
Der Internethändler Amazon drängt mit eigenproduzierten Serien auf den Markt und lanciert mit »pilot seasons« gleich ein erfolgreiches Verkaufskonzept dazu.
Es ist eine Art Wachablösung: Nach 40 Jahren wird der Vertrag des Dirigenten eines fiktiven New Yorker Sinfonieorchesters nicht noch einmal verlängert. Ein jüngerer Mann mit neuen Ideen und zeitgemäßer Popkultur-Aura soll an seine Stelle treten. Dieser Wechsel steht am Anfang von »Mozart in the Jungle«, der von Roman Coppola, Jason Schwartzman und Paul Weitz für den Streaming-Dienst von Amazon produzierten Fernsehserie. Eine klassische Erzählsituation, die reichlich Stoff für Konflikte bietet, aber in diesem konkreten Fall zugleich über ihren eigenen Rahmen hinausweist.
Denn auch auf dem Fernsehmarkt, in den der Internethandelsgigant Amazon nun mit aller ihm wirtschaftlich zur Verfügung stehenden Macht drängt, findet gegenwärtig eine Wachablösung statt. Die alten Fernsehmodelle mit ihrer starren Programmstruktur haben angesichts der Flexibilität des Internets ihren Reiz verloren. Der wahre Umbruch begann 2012, als mit »Lilyhammer« die erste Serie ihre Premiere hatte, die ganz außerhalb der üblichen TV-Senderstruktur entstand. Produziert und »ausgestrahlt« wurde sie von Netflix, bis dato als DVD-Verleih und Video-on-Demand-Anbieter bekannt. Im nächsten Jahr folgten dann mit »House of Cards« und »Orange Is the New Black« gleich zwei weitere Netflix-Serien. Beide haben innerhalb kürzester Zeit eine ähnlich große Aufmerksamkeit erregt, wie sie zuvor eigentlich nur den Produktionen von Sendern wie HBO vergönnt war.
Die Entscheidung von Netflix, nicht mehr nur anzubieten, was anderswo gesendet wurde, sondern selbst Serien und demnächst wohl auch Filme zu produzieren, wird den Fernseh- und Streaming-Markt von Grund auf verändern. Der Einstieg Amazons, das 2013 mit der Produktion eigener Serien begann, unterstreicht diese Entwicklung.
Um seine Serien zu lancieren, hat Amazon ein eigenes Konzept entwickelt: die sogenannte pilot season. Sie bietet Pilotfolgen verschiedenster Serien zum Streamen an und lässt die Zuschauer diese bewerten. Davon abhängig bekommen einzelne Serien dann das OK für die Produktion einer ganzen Staffel. Die letzte dieser pilot seasons, im Januar dieses Jahres, wurde erstmals auch komplett in Deutschland gezeigt, zusammen mit den bereits in Staffel gegangenen Serien der letzten seasons , dabei auch »Mozart in the Jungle«.
Längst ist es aber nicht nur die geschilderte Umbruchsituation, die »Mozart in the Jungle« einen fast schon allegorischen Charakter verleiht. Rodrigo (Gael García Bernal), der neue Maestro, hat ein deutlich anderes Verständnis von klassischer Musik und ihrer Präsentation als sein Vorgänger Thomas (Malcolm McDowell). Darüber hinaus ist er ein Revolutionär, der nicht ans Elitäre glaubt und die Musik allen schenken will. Also fährt er in einer Episode der Serie mit dem gesamten Orchester in ein heruntergekommenes Viertel von New York und veranstaltet auf einem Abrissgelände eine öffentliche Probe. Der Ausflug entwickelt sich zu einem magischen Konzert und einem alle sozialen Grenzen sprengenden Nachbarschaftsfest – das schließlich von der Polizei auf rüde Weise beendet wird.
Niemand wird dem Großkonzern Amazon sozialrevolutionäre Ideen unterstellen wollen. Bei seinen Strategien geht es selbstverständlich vor allem um die Maximierung von Gewinnen. Doch die Amazon pilot seasons sind Teil eines erstaunlich subversiven Konzepts. Es gab immer schon pilot seasons. Nur fanden die traditionell hinter den verschlossenen Türen der Fernsehsender statt. Die Zuschauer hatten selbst keinerlei direkten Einfluss darauf, welche Serie in Produktion geht und welche Ideen für immer in den Schränken der Sender verschwinden. Amazon geht nun den entgegengesetzten Weg. Jeder Nutzer von Amazon Instant Video kann sich nun sämtliche pilots ansehen und dann mittels eines digitalen Fragebogens bewerten.
Natürlich ist dieses demokratisierte Auswahlverfahren darauf ausgerichtet, dem Geschmack des späteren Publikums und damit dem Verkaufserfolg so nah wie nur eben möglich zu kommen. Allerdings hat Amazon seinen Serienmachern bei der Umsetzung ihrer Ideen bislang extrem große Freiheiten gewährt. Sowohl Garry Trudeau, der Kopf hinter der Politsatire »Alpha House«, als auch Jill Soloway, deren tragikomische Familienserie »Transparent« in diesem Jahr zwei Golden Globes gewonnen hat, betonen in Interviews immer wieder, dass sie ihre Visionen ohne Abstriche und Eingriffe von Seiten der Amazon Studios realisieren konnten.
Dieser alles andere als selbstverständliche Freiraum hat es den Machern von »Mozart in the Jungle« sogar erlaubt, mit einem Paradigma des Fernsehens zu brechen. Die meisten Serien, und das gilt auch für die oft mit prominenten Regienamen besetzten Produktionen von HBO oder Netflix, zeichnen sich durch eine staffelübergreifende einheitliche Ästhetik aus. Die einzelnen Mozart-Episoden sind dagegen deutlich als Werke ihrer jeweiligen Regisseure zu erkennen. Das Verbindende ist hier der Wille, sich den unterschiedlichsten Ideen und Einflüssen zu öffnen. So folgt etwa auf Bart Freundlichs neorealistische Episode »The Rehearsal« mit Roman Coppolas »You Go to My Head« eine Folge, die ganz im Zeichen der großen Modernisten des Kinos steht.
So radikal und vielstimmig wie »Mozart in the Jungle« sind die anderen Amazon-Originalserien nicht. Garry Trudeaus »Alpha House« mit seiner WG aus vier republikanische Senatoren folgt klassischen Sitcom-Genremustern. Allerdings spielt sie äußerst subversiv mit Politklischees. Vor allem John Goodmans Senator Biggs hat sich darin zu einer vielschichtigen Figur entwickelt, die mit ihren noch aus den 80ern stammenden Vorstellungen und Werten kaum mehr in ihre eigene Partei passt.
Den bisher größten Erfolg konnte Amazon mit »Transparent« feiern, Jill Soloways Saga um die von Jeffrey Tambor gespielte Transsexuelle Maura Pefferman. Eigentlich sind die Pfeffermans eine typische (Serien-)Familie – ihre Mitglieder taumeln von einer emotionalen Krise in die nächste. Aber Mauras Coming-out als Frau, das ihre drei Kinder dazu bringt, auch ihre eigenen Identitäten zu hinterfragen, verflüssigt nicht nur Gender-Kategorien, sondern bringt auch Soziales ins Wanken. »Transparent« zeichnet ein sehr präzises Porträt einer Mittelschicht, der die Gewissheiten abhandenkommen.
Die Krimiserie »Bosch« dagegen hat zwar bisher nicht so viel Aufsehen erregt wie etwa HBOs »True Detective«. Dennoch verbindet Eric Overmyers Adaption von Michael Connellys »Harry Bosch«-Romanen einiges mit der Serie. Auch hier steht eine einzelne Ermittlung im Zentrum der Erzählung, so dass sich die zehn Folgen zu einem enorm geschlossenen Ganzen fügen. Dabei kommt Bosch ein Charakteristikum des Streaming-Modells sehr entgegen. Die gesamte erste Staffel wurde – wie Netflix es zuerst mit »House of Cards« gemacht hat – auf einen Schlag veröffentlicht. Wer wollte, konnte in die Bosch-Welt wie in einen Film eintauchen: Titus Welliver spielt die Titelfigur eines L.A.-Kriminalisten und klassischen amerikanischen Einzelgängers, der immer tiefer in polizeiinterne Intrigen hineingezogen wird.
Gegenwärtig haben die Amazon Studios neben den zweiten Staffeln von »Transparent« und »Mozart in the Jungle« noch fünf neue Serien in Auftrag gegeben, von denen zumindest zwei große Hoffnungen wecken. Ben Watkins’ »Hand of God«, in der Ron Perlman einen Richter mit Nervenzusammenbruch spielt, und deren Pilotfolge von Marc Forster inszeniert wurde, könnte ungemein von den kreativen Freiheiten profitieren, die Amazon seinen Serienmachern lässt. Zumindest sind Watkins und Forster mit der ersten Episode tief in eine Welt abgetaucht, in der sich politische Korruption, religiöser Wahn und bizarre Verschwörungen zu einem fast schon apokalyptischen Szenario verbinden.
Ein noch weitaus ambitionierteres Projekt ist Frank Spotnitz’ Adaption von Philip K. Dicks Roman »The Man in the High Castle«, an der als Produzent auch Ridley Scott beteiligt ist. In Dicks alternativer Realität haben die Nationalsozialisten den Krieg gegen Amerika per Atomschlag gewonnen. Die Ostküste der Vereinigten Staaten ist deutsches, die Westküste japanisches Besetzungsgebiet. Dazwischen liegt eine neutrale Zone, in der gut 15 Jahre nach Kriegsende Agenten und Widerstandskämpfer im Geheimen operieren. Die von David Semel inszenierte Pilotfolge besticht schon durch ein unglaublich aufwendiges Productionsdesign, das nicht einfach die Zeit der frühen 60er Jahre rekonstruiert, sondern eine wie von den Achsenmächten geprägte eigene Welt erschafft. Es ist offensichtlich, dass Amazon mit »The Man in the High Castle« endgültig zu den großen Konkurrenten aufschließen will.
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