Der gestrandete Wal

Putin, der »Leviathan« und das junge russische Kino
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Wladimir Putins repressive Politik macht sich auch in der Kultur bemerkbar: Das russische Kino steckt in der Klemme. Das hat exemplarisch die Diskussion um den international erfolgreichen Leviathan gezeigt. Ein Bericht von Barbara Wurm

Das Moskauer Internationale Filmfestival war immer schon gut für Ungereimtheiten, in den letzten Jahren jedoch häuften sich unheimliche Erscheinungen. Was mit dem schleichenden Wandel zu tun hat, der die russische Kulturlandschaft erfasst hat. Treuer Gast des Festivals ist Emir Kusturica, der die Bühne schon mal für nationalistische Hetzreden nützt. Auch der Neorusse Gérard Depardieu wird verehrt: Er darf der launigen Berichterstattung über den Fortgang seines russischen Weinguts ganze Pressekonferenzen widmen.

Nicht allen, die hier als Stars auflaufen, ist bewusst, wohin sie geraten sind. Brad Pitt schien 2013 angesichts der dubiosen Folkloreeinlagen, die rund um seine World War Z-Premiere choreographiert worden waren, recht irritiert: Der Ausdruck Kitsch gibt nur vage die eklatante Geschmacksverwirrung wieder, die zum Markenzeichen der Pseudoprunkzeremonien des Festivals, seines Gastgebers Nikita Michalkow und des neuen Russland geworden ist.

Und doch ist diese Spektakelkultur, die Patriotismus und Hollywood ebenso unter einen Hut bekommt wie Blockbuster-Hype und Referenzen an die einst glorreiche Filmgeschichte, und die nichts anderes will, als die globale Anschlussfähigkeit der russischen Kultur zu simulieren, nur eine Seite der Medaille. Die andere ist weniger von Oberflächeneffekten als von fundamentalen Verschiebungen in der Diskurslandschaft getragen.

»World War Z« (2013)

Beim Festival Ende Juni 2012 – kurz nach der wegweisenden Wiederwahl Wladimir Putins zum Präsidenten eines rundum »reformierten« Staates – war es so weit: Wladimir Medinski, der neue Kulturminister, betrat mit feingeschliffener Brille die Bühne, jugendlich, dynamisch und enorm steif. So sahen nur die vorbildlichsten Komsomolzen unter Breschnew aus, meinten Scharfzüngige. Und sie sollten recht behalten, denn seit der Autor von Büchern wie »Mythen über Russland: Von der russischen Trunksucht, Faulheit und Grausamkeit« die Schaltstelle zwischen Führung und Volk, Staat und Kultur verwaltet, gibt es wenig zu lachen. Nicht nur die politische Stagnation, auch die kulturelle hat nun ein Gesicht.

Kurz vor Jahresbeginn 2015 fand erstmals überhaupt eine offizielle gemeinsame Sitzung von Staatsrat und dem Rat für Kultur und Kunst statt, deren erste Hälfte Putin im Alleingang bestritt: Es ging dabei um die »Grundlagen der staatlichen Kulturpolitik«, die neben der allgemeinen Mission – Kunst sorgt für das gesellschaftliche Wohl und moralische Ideale – auch spezifischere Inhalte wie die Erziehung von Kindern und Jugendlichen hin zum Patriotismus beinhalten. Kultur, so Putin, sei »ein zentraler Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung, des wirtschaftlichen Wachstums und sogar, im vollen Sinne des Wortes, der Gewährleistung der nationalen Sicherheit und der Souveränität Russlands«. Kritik an oder Distanz zur Macht ist nicht mehr vorgesehen. 

Hatte Medinski bei seiner Antrittsrede beim Moskauer Festival seine Anfängerunsicherheit noch damit überspielt, sich als eingefleischter »Filmfan« zu präsentieren, so hören sich heute seine Statements anders an. Kein Geringerer als Andrey Zvyagintsev, dessen Leviathan für den Oscar nominiert und mit dem Golden Globe als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet wurde, bekommt den neuen Wind am stärksten zu spüren. Denn internationaler Erfolg ist Erfolg im Westen und der Oscar sowieso nur ein Symbol der bös-kapitalistischen USA. In Zeiten des neuen Kalten Kriegs darf kein Neid aufkommen, und jede atmosphärische Funkenübertragung zurück auf russisches Territorium muss tunlichst vermieden werden. Vom Golden Globe berichteten die Medien daher kaum. Und für den Minister liegen Zvyagintsevs Qualitäten eher darin, über »die roten Teppiche der Welt zu laufen, um Russland öffentlich ins Gesicht zu spucken«. Die finanzielle Förderung seines nächsten Films wird sich das Kulturministerium gut überlegen.

»Leviathan« (2014)

Wie immer man zu Leviathan stehen mag – ob man seine mythologische Dimension, die Anspielungen an die Hiob-Geschichte, die Reminiszenzen an Thomas Hobbes’ Analyse der monströsen Allmacht des Staates oder das Changieren zwischen symbolschwangerer Gesellschaftsallegorie und detaillierter Milieustudie als prätentiös oder genial, als unglaubwürdig oder treffend einstuft – Zvyagintsevs Film ist zum ikonischen Ausdruck der Verlogenheit und Rücksichtslosigkeit des »Systems Putin« geworden. Er zeigt den geistig-moralischen Abgrund, den Kulturapostel Medinski und seine Jünger für sich und »ihr« Volk leugnen, während sie ihn als Wertehorizont ihrer äußeren und inneren Gegner darzustellen versuchen. Die epische Unglücksmär vom sturen Kolja, der vom lokalen Bürgermeister (feist, dreist, vulgär) und dem hinter diesem stehenden System (korrupte Polizei, willfährige Justiz, brutale Banden, heuchlerische Kirchenpatriarchen) ruiniert und vollständig entrechtet wird, ist der Kulminationspunkt aller aktuellen kultur- und filmpolitischen Debatten.

Da hilft auch nicht der wiederholte Hinweis des Regisseurs auf die universelle Gültigkeit seiner Parabel und die Tatsache, dass das Drehbuch eigentlich auf einer wahren, allerdings amerikanischen – ausgerechnet! – Story basiere. Gleich nach den Blitzlichtgewittern für Leviathan an der Croisette verabschiedete die Duma im Juli 2014 ein Gesetz, wonach sich »obszöne Lexik« in russischen Filmen für ein russisches Publikum nicht zieme. Da der Bürgermeister aus dem Film aber seinen Vernichtungsfeldzug nicht zuletzt durch schlimme verbale Invektiven bekräftigt (und auch die Gesetze des künstlerischen Realismus allgemein es fordern, dass eine Darstellung des echten Russen nur mit Wodka, Zigaretten und Mutterflüchen erfolgen kann), standen Zvyagintsev und sein Produzent Alexander Rodnianski monatelang vor dem Dilemma, den Film beschneiden zu müssen, damit er im Februar 2015 – nach etlichen Aufschüben – in Russland ins Kino kommen kann. In der Zwischenzeit haben Millionen Russen den Film allerdings im Internet gesehen (huch!,  in der ›Westfassung‹!).

Aber auch die Gegner formieren sich: Analog zu den Gerichtsverhandlungen gegen Pussy Riot und die Ausstellung »Achtung, Religion!« fand sich ein illustres Grüppchen Gläubiger, Geistlicher und Lokalpolitiker, die dem Film »ungesunde« Wirkung unterstellen und ihn als »schmutzige Parodie« auf die orthodoxe Kirche verunglimpfen. Die aktuellen Säuberungskampagnen der russischen Kulturpolitik erinnern in ihrer Rigorosität in der Tat an die perfiden denunziatorischen Strategien des Stalinismus und des Tauwetterendes. Und sie werden begleitet von einer immer absurderen Gesetzgebung.

Unterm Strich markiert der Fall Leviathan die Sollbruchstelle der russischen Kulturpolitik mit verheerenden Auswirkungen. Ab jetzt bedeutet jede Drehbucheinreichung, jeder Förderantrag, jeder Film und darin jede Einstellung einen Schritt in die richtige oder falsche Richtung. Jede Entscheidung eines Festivals, einen Film zu zeigen oder nicht, ist politisch. Auch in Deutschland: So lief Leviathan bei »Around the World in 14 Films« im November als Eröffnungsfilm, während die gleichzeitig stattfindenden »Russischen Filmtage«, gefördert von Gazprom und Co., den Film zurückzogen. Interne Diskussionen – noch bevor das Gesetz in Kraft trat – gab es sogar beim nationalen Filmfestival in Sotschi, als dessen Leiter Rodnianski amtiert: Leviathan lief zwar nicht im Wettbewerb, aber immerhin als Abschlussfilm. Michalkows Moskauer Festival hingegen sagte Njet. So wird ein Keil in die Gesellschaft getrieben, Freundschaften zerbrechen, Menschen werden zu Verrätern gestempelt, andere paranoid. 

Der Dokumentarfilmer Sergej Losnitsa, der in seinem ersten Spielfilm Mein Glück (Schastye moe, 2010) die Gewaltorgien der korrumpierten Staatsorgane zeigt – in ähnlich unterkühlter Ästhetik wie Zvyagintsev –, emigrierte schon vor etlichen Jahren. Dass jetzt ausgerechnet sein aktuelles ukrainisches Revolutionsepos Maidan vor Hunderten Zuschauern in Moskau lief, hat er dem Mut eines anderen Dokumentaristen zu verdanken, Vitali Manski, der seit 2007 das international hoch angesehene »Artdokfest« leitet. Manski gehört zu den exponierten Gegnern der ideologischen Retro-Turns, was sich insbesondere in seinem offenen Streit mit Kulturzar Michalkow, dem Vorsitzenden des »Verbands der Filmschaffenden«, zeigte: 2010 gründete er den »Kinosojuz« (Filmverband) und überzeugte viele der wichtigsten Regisseure von der Notwendigkeit dieser Abspaltung. Darunter waren nicht nur die Würdenträger der Zunft, Alexander Sokurow und der 2013 verstorbene Alexej German sen. – dessen dystopische Parabel Es ist schwer, ein Gott zu sein (2014) sein Lebenswerk posthum krönte –, sondern auch die jüngere Generation, etwa Boris Chlebnikow. Nicht zufällig widmet der sich in Ein langes und glückliches Leben (2013) erstmals explizit der Ohnmacht des idealistischen Einzelkämpfers im Meer der Korruption, während sich seine früheren Filme, etwa Free Floating (2006) oder Help Gone Mad (2009) weniger politisch ausnahmen.

»Stalingrad 3D« (2013)

Gemeinsam mit Alexej Popogrebski (Simple Things, 2007; How I Ended This Summer, 2010), Nikolai Chomeriki und Wasili Sigarew, dessen düster-brutaler Film Schitj (Leben, 2011) den Blick freigibt in die existenziellen Abgründe des menschlichen Daseins, steht Chlebnikows Koktebel-Studio für postsowjetisches Arthouse-Kino in Perfektion, für ein durch und durch europäisches Kino. Flankiert werden sie mittlerweile vom stilistischen Eigenbrötler Alexej ­Fedortschenko, der mit seinen verspielt ethnografischen Denis-­Ossokin-Verfilmungen Stille Seelen (2010) und Celestial Wives of the Meadow Mari (2012) im internationalen Festivalzirkus ebenso punktet wie der nicht minder solipsistische Iwan Wyrypaew. Seine manierierten Inszenierungen handeln meist vom Liebestaumel und den mit diesem verbundenen Konsequenzen – ob Euphoria (2006), das Song-Film-Experiment Oxygen (2009) oder die Redeschwall-­Orgie Delhi Dance (2012). All diese Filme bilden den intellektuell-individualisierten Gegenpol zum staatlich forcierten Blockbusterkino, das 2013 neben Fjodor Bondartschuks fulminantem Stalingrad den reißerischen Katastrophenfilm Metro oder die filmische Katastrophe Legenda no. 17 von Nikolai Lebedew aufbot, die den Siegeszug der legendären 70er-Jahre-UdSSR-Eishockeymannschaft in arg nationalistischen Bildern und Tönen schildert.

Während die ältere Generation kontinuierlich ihr Handwerk fortsetzt – Alexander Sokurow, Swetlana Proskurina, Alexander Seldowitsch, Konstantin Lopuschanski, die nunmehr endgültig als Ukrainer etikettierte Kira Muratow oder auch Alexander Weledinski (Der Geograf, der den Globus austrank schlug bis nach Deutschland Wellen) –, zeichnen sich gerade in den letzten beiden Jahren neue Namen ab. Da ist zum einen Juri Bykow, der in Major ebenso wie in seinem neuen Film Durak (Der Narr) die russische Gesellschaft auf noch explizitere Weise als Zvyagintsev als tief verwurzelt in Filz und Gewaltexzessen darstellt. Ein Kino der Drastik ist das, grausam anzusehen und hochtourig dramatisch.

»Hope Factory«

Reality bites auf ganz andere Art sieht man in den dokumentarisch grundierten Spielfilmen Correction Class (Iwan Twerdowski) – vom brutalen Umgang mit Invaliden –, Another Year (Oxana Bytschkowa) – von der Auflösung einer jungen Ehe –, und besonders Hope Factory von der Rasbeschkina-Schülerin Natalia Meschaninowa, die die Perspektivlosigkeit ihrer Generation in der Chemiestadt Norilsk verortet.

Wie sich der Gesetzgebungswahn der Kulturnation Russland in Zukunft auf die Filmproduktion auswirkt, wird man sehen. Die Lebenswelten, die aus Filmen wie Hope Factory zu erahnen sind und von diversen starken Dokumentarfilmen aus der Schule Marina Rasbeschkinas bestätigt werden, sehen jedenfalls den russischen Mutterfluch ebenso vor wie homosexuelle Bindungen. Der Regisseur von Children 404, Askold Kurow, und seine Protagonistin, die LGTB-Aktivistin Lena Klimowa, bekamen die Bandagen zu spüren. Die Filmpremiere wurde von der Polizei aufgelöst. Eine beispiellose Hetzkampagne hat begonnen.

Couragiertes Filmemachen und Filmezeigen kommen im neuen Russland denen, die sich von den Gespenstern nicht einschüchtern lassen, teuer zu stehen. Manskis Filmverband protestierte gegen die militärische Intervention in der Ukraine. Sein neues Filmprojekt wird ihm nun verweigert, sein »Artdokfestival« nicht mehr vom Kulturministerium unterstützt. Als Nestbeschmutzer diffamiert, darf er in Zeitungen lesen, ein »jüdischer Ukrainer werde eben nie ein echter Russe«. Nachwuchsregisseur Oleg Sentsow sitzt seit der Krim-Annexion in Moskau wegen Terrorismusverdachts hinter Gittern. Alexander Mindadses Milyy Khans, Dorogoy Pyotr (Lieber Hans, bester Pjotr), der den Zweiten Weltkrieg nicht so schildert, wie ihn Wladimir Putin sieht, scheitert als deutsch-russische Koproduktion.

»The Term« (2014)

Der berüchtigten »ethischen Charta« des Ministers, der sich auch Filmkünstler heute zu unterwerfen haben, widersprechen überhaupt alle in- und halboffiziellen filmischen Produkte. Subkultur ist Unkultur. Das weit angelegte Dokumentarfilmprojekt Srok (The Term) zur russischen Opposition wanderte gleich ins Internet ab.

Man sollte es mit dem Doyen der russischen Filmvermittlung, Naum Kleiman, halten, der gerade die »Berlinale Kamera« erhielt. Seit sein Moskauer Filmmuseum drangsaliert und abgewickelt wird – nicht zuletzt aufgrund falscher Zusicherungen Nikita Michalkows – droht ein ganzes Gegenimperium echter Zivilcourage unterzugehen. Das macht Tatiana Brandrups Cinema: A Public Affair deutlich. Chlebnikow, Zvyagintsev – sie alle kommen von dort. Folgen wir dem 11. Gebot, sagt Kleiman in dem Film. Und das lautet: »Habt keine Angst!« Für das russische Kino kann das nur heißen: Lasst den Karneval der Unkultur beginnen.

... zur Filmkritik von Leviathan

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