Kritik zu Betty Anne Waters
Tony Goldwyn verfilmt die wahre Geschichte einer Kellnerin, die das Jurastudium aufnahm, um ihren unschuldigen Bruder aus dem Gefängnis zu holen
Über 250 Delinquenten wurden in den USA aufgrund von DNS-Tests nachträglich freigesprochen. Darunter 17, die in der Todeszelle auf die Vollstreckung ihres Urteils warteten. Für diese Menschen, die nicht zufällig der Unterschicht angehören, interessiert sich Tony Goldwyn. Sein Justizdrama, das auf dem authentischen Fall von Kenny Waters basiert, der im März 2001 nach 18 Jahren freigesprochen wurde, gibt sich klassenkämpferisch. Es nimmt sich Zeit, um diesen Unterprivilegierten vorzustellen, der von Sam Rockwell als nicht ganz so typischer Vertreter des white trash gespielt wird. Doch wenn Kenny mit Baby auf dem Arm und Bierflasche in der Hand Partystimmung verbreitet, ist klar, dass wir es nicht mit einem Angehörigen der Mittelklasse zu tun haben. Dieser impulsive Typ ist im Grunde herzensgut. Man darf ihn nur nicht von der Seite anquatschen – dann zerlegt Kenny schon mal das komplette Lokal.
Seine unberechenbare Emotionalität wird ihm zum Verhängnis. Nachdem er sich überraschend wegen Mordes vor Gericht verantworten muss, zweifeln zunächst die Geschworenen und dann die besten Freunde an seiner Unschuld. Gegen die Mühlen der Justiz hat der Ungebildete keine Chance. Halbwegs neu in diesem Justizdrama, das mit erfreulich wenigen Gerichtsszenen auskommt, ist, dass der Mann im Kampf gegen das korrumpierte System nicht die handelnde Person ist, sondern eine Frau, seine Schwester.
Um die Unschuld ihres Bruders zu beweisen, beginnt Betty Anne ein Jurastudium, das sie als Kellnerin selbst finanziert. Dabei geht ihre Ehe in die Brüche, und sie verliert das Sorgerecht für ihre beiden Söhne. Mit der Verkörperung dieser Unterschichtfrau, in deren Sorgenfalten die Spuren eines nicht immer einfachen Lebens ablesbar sind, macht Hilary Swank ein weiteres Mal auf sich aufmerksam. Undifferenziert gezeichnet ist die böse Gegenspielerin, von Melissa Leo als verkniffene Polizistin gespielt, die sich gegen die Männerbünde nur mit Heimtücke durchsetzt: Um ihrer Karriere willen bringt sie Kenny mit manipulierten Beweisen hinter Gitter. Das Ensemble starker Frauen wird abgerundet durch Minnie Driver als Bettys Busenfreundin und Juliette Lewis, deren furioser Auftritt als ultimative Schlampe schwer zu toppen ist.
Die unprätentiöse Zeitreise in die 80er und 90er Jahre ist eine Gratwanderung zwischen Independentdrama und Hochglanzstarvehikel. Goldwyn zeigt etwas mehr von den sozialen Verhältnissen – allein das klapprige Fertighaus, in dem die Leiche gefunden wird, ist ein Statement. Durch die glatte Erzählform und die zugespitzte Typisierung der Charaktere wird der Marsch durch die Institutionen jedoch mythisch überhöht. Die Heldin ist keine wirkliche Gegnerin des Systems. Sie verkörpert vielmehr dessen ureigene Stärke: Durchhalten als amerikanische Tugend. Deshalb wirkt ihre Figur trotz Hilary Swanks schauspielerischer Leistung etwas schal, geht ihr Schmerz nicht unter die Haut. Dazu passt es, dass die eigentliche Ironie der Geschichte ausgespart wird: Der authentische Kenny Waters starb nur sechs Monate nach seiner Freilassung an einem leichtsinnigen und vermeidbaren Unfall.
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