Kritik zu Never Let Go – Lass niemals los

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Eine Mutter und ihre Zwillingssöhne in einer einsamen Hütte im Wald, umzingelt von einem scheinbar allgegenwärtigen Bösen – das ist die Prämisse für Alexandre Ajas minimalistischen Horrorfilm mit Halle Berry

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Das zentrale Motiv von »Never Let Go« klingt so hanebüchen, dass es, wenn schon nicht an den Haaren, dann jedenfalls an einem Seil herbeigezogen scheint. Denn ein Seil ist in der Welt des Films der Schutz vor dem Bösen da draußen; solange die Hauptfiguren mit ihm als der ewigen Nabelschnur mit dem eigenen Haus verbunden sind, können ihnen all die mörderischen Dämonen, die von der Welt Besitz ergriffen haben, nichts anhaben. Sobald die Verbindung aber auch nur für Sekunden gekappt ist, kann das Böse Momma und ihre beiden 10-jährigen Söhne Samuel und Nolan vereinnahmen. So zumindest bläut es Momma ihren Jungen ein – und das ist auch schon der Dreh- und Angelpunkt der gar nicht so einfältigen Story: Ist die Erzählung der Mutter Wahrheit oder Wahnsinn? Ist wirklich die ganze Welt um ihr Haus und ihren Wald herum untergegangen und von einem viele Gestalten annehmenden Bösen beherrscht, das ihnen als den letzten Menschen nach dem Leben und der Seele trachtet? Hängt beim Verlassen des Hauses ihr Überleben wirklich an diesem Seil? Und ist ihr Zuhause wirklich, wie sie es mantraartig täglich wiederholen müssen, der Himmel auf Erden?

Die Familie und das eigene Haus als letztes Bollwerk gegen eine mörderische Welt: Diesem Setting konnte man im Horrorfilm der vergangenen Jahre öfter begegnen, etwa in »It Comes at Night« oder auch »A Quiet Place«. In »Never Let Go« bleibt die Frage nach der Wahrheit die meiste Zeit auf der Kippe, und genau diese Gratwanderung macht einen guten Teil der Spannung des Films aus.

Zwar sehen wir immer wieder die furchterregenden Dämonen, die ums Haus schleichen, auch mal die Gestalt des toten Vaters der Jungen oder der Mutter von Momma annehmen und sich mit diesem Trick einschleichen wollen, doch die Inszenierung macht deutlich, dass wir Mommas Perspektive einnehmen – für die Zwillinge bleibt das Böse unsichtbar. Und so wachsen vor allem bei Samuel, dem skeptischeren der Jungen, Zweifel an dem seltsamen Glaubenssystem, mit dem er und Nolan aufgewachsen sind. Die Situation verschärft sich zudem, als die Familie nicht mehr genug Nahrung in der unmittelbaren Umgebung, also im Radius des Seils, findet. Der Hunger treibt einen Keil in die Familie, und als Fremde auftauchen, die so gar nicht wie Dämonen wirken, eskalieren die Konflikte.

Über weite Strecken balanciert Alexandre Aja die Mischung aus Horrorfilm, Survival- und psychologischem Thriller gut aus, mit viel Gespür für Atmosphäre und psychologische Doppelbödigkeit. Erst im letzten Drittel handhabt er die Standardsituationen etwas zu durchschaubar. Dass der minimalistische Plot gut funktioniert, ist auch Halle Berry zu verdanken, die eine kraftvolle Performance bietet. Am interessantesten ist der Film allerdings als Parabel auf politischen Isolationismus sowie auf die perfide Logik, mit der verschwörungsideologische Denksysteme stets sich selbst bestätigen. Nach dem Motto: Wenn nur die Mutter das Böse sehen kann, dann ist das kein Anzeichen des Wahns der Mutter, sondern ein Trick des Bösen: Es will das Vertrauen der Söhne untergraben und die Familie spalten . . .

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