Am Rand und mittendrin
Vor einigen Jahren, als wir epd-Autoren unserer Jahresliste der fünf besten Filme noch eine kurze Erklärung beifügen sollten, schrieb ein Kollege zu »A Most Violent Year«: "Weil solche Filme früher Mainstream waren". Ich bin nicht sicher, ob ich diesen wundervollen Satz korrekt zitiere, aber der Gedanke ist mir im Gedächtnis geblieben.
Vielleicht ließe sich Ende 2024 Ähnliches über Jeff Nichols »The Bikeriders« sagen, der in dieser Woche anläuft. Wobei das Genre des Biker-Films ja allenfalls sporadisch zum Mainstream gehörte. Nach der Welle der 1960er Jahre fallen mir jedenfalls nicht viele namhafte Beispiele ein - und »Knightriders«, »The Loveless« oder »Streets of Fire« sind ja eher an den Rändern des Systems entstanden. Die Wikipedia sieht das anders (für deren Liste zählt allerdings jeder Film, in dem ein Motorrad vorkommt, zum Korpus); Georg Seeßlens Essay macht im aktuellen Heft weitere Ausnahmen namhaft. In Jeff Nichols' Film, das konnte ich leider in meiner Kritik nicht mehr unterbringen, gibt es einen Moment, der vom Wandel des Images erzählt. Es handelt sich um die zweite Szene, in der im Hintergrund ein bezeichnender Fernsehausschnitt zu sehen ist. Da läuft eine Folge der Serie »Dr. med. Marcus Welby«, in der dessen von James Brolin gespielter Assistent auftritt. Der wurde damals schon im Vorspann als Motorradfahrer vorgestellt, was durchaus exotisch wirkte in einer solch erbaulichen Serie. Aber ein Bürgerschreck wie Brando in »The Wild One« war er Anfang der 1970er mitnichten.
Ein weiterer Hinweis, für den kein Platz war, betrifft den Abspann des Films. Es lohnt, ihn bis zum Ende zu schauen, denn er zeigt Fotos der realen Vorbilder für Nichols' Charaktere, die Danny Lyons aufnahm. In einigen Einstellungen zitiert Nichols auch dessen Impressionen, namentlich die ikonische Aufnahme eines Bikers, der beim Überqueren einer Brücke kurz zurückblickt. Sie fasst den Film prunkend zusammen, beschreibt nicht nur die Figur, die Austin Butler spielt, sondern auch die dynamische Nostalgie des Regisseurs. Im Interview mit Frank Arnold spricht er ausführlich über den Einfluss, den Lyons' Arbeit auf seinen Film hat. Tatsächlich fasste er schon vor zehn Jahren den Plan, dessen Bildband zu adaptieren. Vor zwei, drei Jahren war er dann bereit, das Projekt endlich in Angriff zu nehmen. Die Pandemie sowie die Fusion von Fox und Disney verzögerten den Start jedoch. "The Hollywood Reporter" spricht mithin von "the long-awaited 'The Bikeriders". Aber was heißt das wirklich?
Seit »A Most Violent Year« vor gut einem Jahrzehnt herauskam, hat sich der Mainstream Hollywoods noch einmal mächtig gewandelt. So lang dauerte in etwa ja auch die Pause, die Nichols' Karriere einlegte. Bei der Kritik erregt sein Comeback beiderseits des Atlantiks enorme Aufmerksamkeit. Wie gespannt das Publikum auf ihn ist, steht auf einem anderen Blatt. Laut Suchmaschine hat »The Bikeriders« ein Budget von 40 Millionen US-Dollar und liegt somit in einem riskanten Mittelfeld. Mit einer so prominenten Besetzung hat Nichols bisher noch nicht gearbeitet, aber sind Tom Hardy, Austin Butler und Jodie Comer zugkräftig genug, damit die Produktion ihre Kosten einspielt? Allwöchentlich liest man in der IMDb die Einschätzungen von Analysten, in welchem Bereich das voraussichtliche Einspiel der neuen Filmstarts liegen wird. Zu »The Bikeriders« habe ich bislang noch keine Zahlen gelesen; womöglich bewegt er sich unterhalb des Radius' von Paul Dergarabedian und den anderen Orakel. Sie alle warten auf den Film, der den Sommer oder das ganz Jahre rettet..
Bisher hat Nichols in einer ganz eigenen, marginalen Ökonomie gearbeitet. Sein Regiedebüt »Shotgun Stories« kostete 2007 etwa 50000 Dollar, die weitgehend von ihm selbst und seiner Familie aufgebracht wurden. Bei »Take Shelter« beliefen sich 2011 die Kosten auf ca. 650000 Dollar, was erstaunlich ist, da immerhin Jessica Chastain mitspielt. Eigentlich sollte das Budget bei zwei Millionen liegen, aber damit wären Sachzwänge einher gegangen, auf die der Regisseur sich nicht einlassen wollte. So schilderte er das zumindest dem Interviewer von "Liberation", im Gespräch mit dem "Hollywood Reporter" äußerte er sich etwas anders, da zeigte er sich etwas willfähriger, nicht zuletzt im Hinblick auf sein noch nicht aufgegebenes Projekt eines Remakes von »Alien Nation«, dessen Drehbuch er unterdessen wohl erheblich verändert hat und dessen Budget 100 Millionen betragen soll. Eine Menge Geld für die Wiederverfilmung eines seinerzeit teuren Flops!
Gleichviel, seine Unabhängigkeit lässt dieser Filmemacher sich bis dato einiges kosten. Bislang arbeitete er in einer Nische, auch wenn die Budgets von »Loving« und zumal »Midnight Special« (immerhin ein Science-Fiction-Film) gewiss erklecklich waren. In dieser Marge liegen Erfolg und Enttäuschung wahrscheinlich nah beieinander, im Heimkino könnten seine bisherigen Arbeiten durchaus ja ein langes Leben fristen. Was die Aussichten für »The Bikeriders« angeht, bin ich agnostisch. Das Zeug zum Kultfilm hat er allemal, sein Thema, das Renommee des Regisseurs und seiner Hauptdarsteller stehen dafür.
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