Drama International Short Film Festival
»Midnight Skin« (2023)
Warum gibt es in der Kleinstadt Drama im äußersten Norden Griechenlands ein internationales Kurzfilmfestival, und: Hat der Name etwas damit zu tun? – Eine einfache Antwort gibt es nur auf die erste Frage: Es war die Kinobegeisterung der Mitglieder des Filmclubs von Drama, die 1978 zum ersten Festival mit griechischen Kurzfilmen führte. Bei Filmemachern und Publikum kam die Veranstaltung so gut an, dass einige Jahre später die Stadt und Mitte der 80er Jahre auch der griechische Staat als Sponsoren einstiegen.
Erst 1995 wurde das Festival international. Diese ersten 17 Jahre seiner Geschichte spielen eine entscheidende Rolle, denn das Drama Short Film Festival ist bis heute eine Messe und Leistungsschau des jungen griechischen Films. Fast alle nationalen Besucher und Besucherinnen kennen sich, und die griechischen Nachwuchstalente aller Sektionen treffen hier auf Produzenten, Veranstalter und Journalisten.
Und das ohne Probleme, denn Drama – laut Wikipedia knapp 45.000 Einwohner – ist eine fast perfekte Festival-Location. Die beschauliche Stadt am Rand der ostmakedonischen Berge, zwei Autostunden von Thessaloniki und nur 50 Kilometer von der bulgarischen Grenze entfernt, bietet gute Gastronomie, Gelassenheit pur und ein angenehmes Ambiente – darin vergleichbar mit Locarno.
Wie das schweizerische Festival beweist Drama seine Weltoffenheit nicht nur im Internationalen Wettbewerb und den Nachwuchsreihen (dem nationalen und internationalen Studentenfilm-Wettbewerb), sondern auch durch weitere Angebote für junge Talente. Zum ersten Mal sorgte diesmal der »Short Film Hub« mit Diskussion-Panels für Austausch und Begegnungen zwischen den Newcomern und nationalen und internationalen Profis. Und beim »Pitching Lab« trafen in Drama schon zum zehnten Mal junge Filmemacherinnen und Filmemacher aus aller Welt zusammen. Die Begeisterung und Zufriedenheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die freundschaftliche und uneitle Zusammenarbeit war groß. Unter professioneller Anleitung bereiteten sie vor Ort die Präsentation ihrer Projekte vor, um sie danach in einer öffentlichen Veranstaltung zu pitchen, also dem Fachpublikum, Produzenten und TV-Redakteuren, anzubieten.
Darunter waren spannende Kurzfilmprojekte über tödliche Frauenfeindlichkeit (aus Indien) und die katastrophalen Auswirkungen des steigenden Meeresspiegels in Indonesiens Hauptstadt Jakarta (»My Tears, a Sea for Jakarta to Sink« von Andrea Nirmala Widjajanto, ausgezeichnet mit dem Greek Film Centre Award). Leider wurde anstelle eines wichtigeren und überzeugenderen Projekts auch das mit dem nur am besten strukturierten und vorgetragenen Pitch ausgezeichnet (»Heaven on Earth«).
Der Begriff Drama passt gut zu einem Festival, dass sich nicht dem experimentellen Film, sondern im Fiction- wie im Dokumentarfilm den dramatischen und narrativen Formen verschrieben hat.
Doch der Ortsname hat nichts mit der literarischen Gattung und dem altgriechischen Wort für »Handlung« zu tun. Die überzeugendste der bekannten etymologischen Erklärungen unterstützt auch der künstlerische Festivalleiter Yannis Sakaridis: Das altgriechische Wort hydr (internationalisiert als hydro) heißt Wasser, und der Standort des Festivalzentrums in einem idyllischen Park mit Tümpeln und Teichen, durchflossen von mehreren Bächen, verweist auf das Offensichtliche: Drama ist ein »Ort am Wasser«.
Einer der besten Beiträge des Festivals war »The Silence of the Banana Trees« (FIPRESCI-Preis) von Eneos Çarka, mein Lieblingsfilm: ein unspektakulärer, sanfter Dokumentarfilm über einen ungarischen Vater, dessen begabte Tochter sich irgendwann von ihm losgesagt hat und jeden persönlichen Kontakt ablehnt. Er wohnt in einem großen, menschenleeren Haus, das geschmackvoll eingerichtet ist mit Gegenständen einer fernen Vergangenheit, darunter zwei Bananenbäume mit sanft wiegenden Blättern, die vielleicht an eine gemeinsame Reise vor vielen Jahren erinnern. Der Vater lebt hier zwischen Kunstwerken der Tochter und unzähligen Fotos und Dias aus der Zeit, als er noch ihr wichtigster Inspirator und bewunderter kreativer Partner war. Der Filmemacher beobachtet den Vater geduldig, hört zu, will aber auch vermitteln und mischt sich mit einem Brief ein in die Familienangelegenheit.
Als erfahrener Zuschauer erwartet und fürchtet man nun die Aufdeckung eines dunklen Geheimnisses. Wie der Regisseur damit umgeht, uns an die Hand nimmt und zum einfachen und doch überraschenden Ende führt, zeigt die Glaubwürdigkeit, die ästhetische Qualität und die starke emotionale Wirkung dieses kleinen Films.
Eine verdiente lobende Erwähnung der internationalen Jury bekam der deutsche Kurzfilm »The Age of Innocence«. Maximilian Bungarten, Absolvent der HFF München, komponierte als Regisseur und Editor aus kühlen, hervorragend kadrierten Bildern (Kamera: Tom Otte) Szenen eines emotional ebenso kalten wie begrenzten Alltags in einer westdeutschen Kleinstadt, aus dem zwei junge Männer geräuschlos, aber unbedingt ausbrechen wollen.
In »La Casa Oberta« (Das offene Haus, Spanien; Preis für die beste Regie) erzählt Julieta Lasarte ausschließlich mit found footage und einem Off-Kommentar – egal ob wahr oder erfunden, auf jeden Fall virtuos – die tragische Geschichte einer prominenten Mutter, die ihre Karriere und ihre Familie managt, dabei aber sich selbst verliert.
Wie wenig sich in 75 Jahren bei erniedrigender Lohnarbeit und Ausbeutung geändert hat, zeigte »Same Old«, ein Remake des Neorealismus-Klassikers »Fahrraddiebe« (Vittorio de Sica, 1948), das nach seiner Cannes-Premiere in Toronto 2022 als bester Kurzfilm ausgezeichnet wurde. Nach dem freieren chinesischen Spielfilm-Remake »Beijing Bicycle« von 2001 übertrug der koreanisch-kanadische Regisseur Lloyd Lee Choi die tragische Geschichte eines Fahrraddiebes wider Willen vom Rom der Nachkriegsjahre fast unverändert ins heutige Manhattan. Atemlos wie sein gehetzter Protagonist, der chinesische Fahrradkurier Lu, mit der Low-key-Bildästhetik und dem rauen Schnitt der besten sozialrealistischen Spielfilme New Hollywoods führt Choi komprimiert und stringent vor, wie ein Wirtschafts- und Sozialsystem persönliche Werte zerstören und den Einzelnen vom Opfer zum Täter machen kann.
Im Internationalen Wettbewerb bot das Festival insgesamt eine sorgfältig komponierte Auswahl guter Kurzfilme, die (einschließlich nationaler Preise und lobender Erwähnungen) mit elf Preisen ausgezeichnet wurde. Für ein Spektrum fast aller Genres und Gattungen: darunter eine essayistische Dokumentation über ein griechisches Gebirgskloster (»Light of Light«, Dokumentarfilmpreis im nationalen Wettbewerb), eine tansanische Reportage-Doku über die Entdeckung des eigenen afrikanischen Filmerbes (»Apostles of Cinema«, Spezialpreis für die beste Produktion), der bitter-süße, grafisch wunderbar gestaltete australische Animationsfilm »Teacups«, der die wahre Geschichte eines vielfachen Lebensretters erzählt (Animationsfilmpreis) und eine scharfsinnige norwegische Satire über Karriere und political correctness in der neuen Medienwelt (»Offline«).
Nicht angemessen fand ich den Grand Prix der Jury für den spanischen Film »Aqueronte«, der wie eine Arbeit aus dem zweiten oder dritten Jahr an der Filmschule wirkt: eine handwerklich gelungene, schauspielerisch gut besetzte Studie, die jedoch nicht viel mehr ist als ein Kompendium aller möglichen Gefühlszustände, Kameraperspektiven, Einstellungen und optischer Mittel, mit denen ein Film Menschen zeigen kann, die – sehr lange – auf einer Fähre unterwegs sind.
Die offenbar wichtigste Auszeichnung für die Festivalmacher von Drama war die Nominierung eines möglichen Oscar-Kandidaten – ein dem Festival erstmals zugestandenes Privileg der Academy, das in Drama wie ein eigener Preis angesehen wurde, aber nicht mehr bedeutet als dass der ausgewählte Film tatsächlich nominiert werden könnte.
Nicht zufällig wurde dafür von den fünf griechischen Beiträgen, die das Festival auch im internationalen Wettbewerb zeigte, der wildeste und dramatischste ausgesucht – und mit drei weiteren Preisen ausgezeichnet.
Der griechische Soft-Horror-Film »Midnight Skin« von Manolis Mavris dürfte wenig Oscar-Chancen haben, er hat aber Qualitäten, die bei den Academy-Mitgliedern gut ankommen könnten: Manolis Mavris inszenierte effektvoll, mit genre-typischen Wendungen und geschickt gesetzten Akzenten die Geschichte einer unscheinbaren Krankenschwester, die in ihren Alpträumen aus der Großstadt jede Nacht in einen düsteren Dschungel versetzt und in eine unheimliche Kommunikation mit den riesigen Bäumen hineingezogen wird.
Wie in Franz Kafkas Erzählung »Die Verwandlung« dringt dann die Traumwelt nach und nach in ihre Lebensrealität ein: Ihre Haut verändert sich …
Interessant, wie Regisseur Mavris sich zwischen den Genres bewegt und seinen Arthouse-Plot in ein Fantasy-Drama überführt, doch leider entstanden dabei, jedenfalls bei mir, keine Funken von Empathie oder Emotion. Am Ende ließ mich der Film, der von der nationalen Jury mit Preisen für Kamera, Sound Design und Special Effects ausgezeichnet wurde, einfach kalt.
A propos Preisverleihung: Einen besonderen Grund zum Feiern bot natürlich Giorgos Lanthimos' gerade in Venedig gewonnener Goldener Löwe für seinen Spielfilm »Poor Things«. Doch so großzügig, hilfsbereit und freundlich das Drama-Festival seine ausländischen Gäste aufnahm, bei der Abschlussveranstaltung wollten die Griechen offenbar vor allem unter sich feiern. Mit satten dreieinhalb Stunden Länge (ohne Pause) machte die Preisverleihung fast den Oscars Konkurrenz – und sie wurde nicht übersetzt! Auch Gäste, die einen der wenigen Übersetzer ergattert hatten, hörten vor allem Rauschen. Deshalb konnten sogar einige Preisträger in ihren Dankadressen nur die Vermutung äußern, dass auf der Bühne gerade wohl etwas Freundliches über ihren Film gesagt worden sei.
Deshalb meine Bitte an Yannis Sakaridis und sein tolles Team: Feiert den griechischen Film bei der Preisverleihung im nächsten Jahr zusammen mit uns, den nicht Griechisch sprechenden Gästen, in gegenseitigem Verständnis! Wir sind neugierig auf Eure Lobes- und Dankeshymnen und freuen uns dann umso mehr mit Euch!
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