Kritik zu Irre oder Der Hahn ist tot
Eine filmische Begegnung mit psychisch Erkrankten, die ihr Leben meistern. Respektvoll, empathisch und auf Augenhöhe
»Ich war dreizehn Mal in der Psychiatrie und hätte damals jemanden wie mich gebraucht, der auf Augenhöhe mit mir redet. Ich dachte immer: Wie wollen die mit ihrem perfekten Leben mir mein kaputtes Leben erklären?«, berichtet ein Mann, der mittlerweile Teil des Teams einer Freiburger Hilfsgemeinschaft für psychisch Erkrankte ist. Eine größtenteils selbst organisierte Anlaufstelle, wo sich Betroffene austauschen können.
Auf Augenhöhe begegnet auch Reinhild Dettmer-Finke den Menschen dort. Sie gibt ihnen Raum, ihre Leidensgeschichte mal ausführlich, mal fragmentarisch zu erzählen. Ein Informatik- und Mathematikstudent mit Schizophrenie. Eine Frau, die seit der Pubertät an Essstörungen und Depressionen leidet. Ein Kettenraucher, der jahrelang unter extremen Psychosen litt. Ihre Namen werden im Film nicht genannt, konkrete Diagnosen bleiben meist ausgespart, Sozialarbeiter oder Ärztinnen tauchen nur am Rande auf. Die Porträtierten sind reflektierte Expert*innen der eigenen Krankengeschichte.
Dazwischen immer wieder Einstellungen unspektakulärer Alltagsroutinen, die Halt bieten: Der Einkauf muss kalkuliert und organisiert, die Mahlzeiten müssen gekocht werden. Es wird gemeinsam gegessen, gemalt und musiziert, andere schwingen den Wischmob oder spülen das Geschirr. Einigen ist dabei deutlich anzusehen, wie viel sie schon durchlitten haben. Bei anderen rätseln wir anfangs, ob wir überhaupt einem kranken Menschen zuhören. So wird deutlich: Nicht jede psychische Erkrankung schlägt mit der vollen Wucht einer Psychose oder eines schizophrenen Schubs zu. Meist schleicht sie sich allmählich ein und sabotiert das Funktionieren im Alltag, bis die Post einfach ungeöffnet im Briefkasten verbleibt und nichts mehr geht.
Vor rund fünfzig Jahren gegründet, ist die Freiburger Hilfsgemeinschaft deutschlandweit die zweitälteste Institution ihrer Art. Hervorgegangen aus der Antipsychiatriebewegung der 70er Jahre, die Hospitalisierung, Medikation und in ihrer radikalsten Ausprägung die Existenz psychischer Erkrankungen an sich ablehnte. Der Film bezieht keine eindeutige Position zum psychiatrischen System an sich, gibt den unterschiedlichen Haltungen dazu aber Raum. Ein älterer Mann verurteilt medikamentöse Behandlungen scharf. Ein anderer widerspricht, ohne Medikamente wäre er heute längst nicht mehr am Leben. Eine kreative, freundliche und fröhliche Frau berichtet von Situationen, in denen ihr aufgrund von Aggressionen gegen andere und sich selbst ein selbstbestimmtes Leben außerhalb einer stationären Behandlung unmöglich war.
»Irre oder Der Hahn ist tot« ist nah dran an seinen Protagonist*innen und wertet nicht. Dass wir ihnen an einem Punkt in ihrem Krankheitsverlauf begegnen, an dem sie relativ stabil sind, wird trotzdem deutlich. Respektvoll und empathisch schildert der Film, wie sie ihr Leben meistern. Unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialer Herkunft: Niemand ist dagegen immun, irgendwann einmal selbst psychisch zu erkranken.
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