ZDF-Mediathek: »Neuland«
»Neuland« (Miniserie, 2022). © ZDF/Georges Pauly
Alexandra Brandt, Buchhändlerin, Mutter zweiter schulpflichtiger Töchter, wird vermisst. Die klassische Exposition für einen Thriller wie »Spurlos« oder »Gone Girl«. Doch der Sechsteiler »Neuland« wartet mit einer etwas anderen Story auf, obgleich Straftaten nicht ausbleiben. Brandts Verschwinden wird zum Auslöser diverser ursächlich bereits vorhandener Konflikte, die noch hinter der Schaustellung von Prestige und Status versteckt liegen.
Im malerischen Sünnfleth, am Elbufer gelegen, im Milieu der Villen und Altbauwohnungen, kennt man sich. Setzt morgens die Kinder vor der Grundschule ab, gehört dem Förderverein an. Sarah Reimers und Marie Klein kümmern sich ohne Zögern um Alexandras Töchter Zoe Brandt und die ältere Lea, bis deren Tante Karen Holt eintrifft.
Karen stammt aus Sünnfleth und wirkt doch wie eine Fremde. Die Soldatin kommt gerade aus Mali, blickt auf Einsätze in Afghanistan und Kosovo zurück. Unverarbeitete, eingekapselte Erfahrungen. Verschlossen, alkohol- und tablettensüchtig, stellt sie als Ersatzmutter nicht unbedingt die beste Wahl dar. So sieht sie es selbst. Nach all den Jahren muss sie sich neu zurechtfinden, dem Leben der Schwester nachgehen, von dem sie nichts weiß, das aber Hinweise auf deren Verbleib liefern könnte. Ist Alexandra freiwillig gegangen, hat sie ein neues Leben begonnen? Wurde sie Opfer eines Verbrechens?
Fragen wie diese, die Fürsorge für ihre Nichten, die Bekanntschaft mit Alexandras Freundinnen bringen es mit sich, dass Karen Holt Zugang zu der sie umgebenden Gemeinschaft sucht und findet. Ein Knotenpunkt des Geschehens ist die Astrid-Lindgren-Grundschule. Architektin Marie Klein hat einen Anbau entworfen, wird aber im Laufe des Geschehens ausgebootet. Missverständnisse führen zum Streit über die Unterrichtsteilnahme des syrischen Flüchtlingsjungen Rami. Die schwangere Klassenlehrerin Petzold bekommt den Druck von Eltern und Schulleitung zu spüren. Sozialarbeiter Erhan Yilmaz vom Jugendamt versucht zu vermitteln.
Auf Basis genauer Beobachtungen, deren erzählerischer Verdichtung und präziser szenischer Bearbeitung gelingt dem Drehbuchautor Orkun Ertener eine Milieustudie in der Form einer Ensembleserie. Spannend auch, aber nicht allein durch die kriminalistischen Vorgänge, stärker durch die psychischen Dispositionen der Figuren und durch den entlarvenden Blick auf Zerrüttungen hinter realen wie metaphorischen Fassaden, auf die Widersprüche zwischen Konformität und privatem Handeln.
Ertener machte 1999 in der RTL-Serie »Sinan Toprak ist der Unbestechliche« erstmals einen türkischstämmigen Kriminalisten zur Titelfigur. 2007 schuf er die Serie »KDD – Kriminaldauerdienst«, die in der einschlägigen Mediengeschichtsschreibung nicht fehlen darf. Damals nach Quoten ein Misserfolg, wird sie heute als Meilenstein der deutschen Seriengeschichte wahrgenommen.
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