Berlinale Panorama: Weibliche Lebenswelten
»Alle reden über das Wetter« (2021)
Panorama: Wie immer öffnete die populärste Sektion der Berlinale den Blick auf die Vielfalt des Kinos, in diesem Jahr war es vor allem ein weiblicher Blick
Es will aufwühlen und aufrütteln, sich bewusst keinen Kategorien unterwerfen, nicht thematisch, nicht ästhetisch. Man könnte das Panorama böswillig als ein willkürliches, buntes Sammelsurium bezeichnen. Vielmehr aber ist es genau jene Sektion, die wie keine andere Lebens- und Filmwelten in all ihren Facetten widerspiegelt, die aus den vielen kleinen Puzzleteilen ein riesiges Mosaik werden lässt. Zugleich zieht sich stets auch durch diese Sektion ein roter Faden. Den Begriff »Fürsorge« bezeichnete Sektionsleiter Michael Stütz im Vorfeld als einen solchen roten Faden. Er lässt sich weit spannen und richtete in diesem Jahrgang doch den Blick auf häusliche, weibliche Fürsorge und auf sehr spezielle Mutter-Tochter-, Mutter-Kind-Beziehungen. Es waren mutige Frauen hinter und vor der Kamera, die das Panorama-Programm dominierten.
Eine der provokantesten dürfte »Grand Jeté« gewesen sein. Jener Film der deutschen Regisseurin Isabelle Stever, in dem eine Mutter eine sexuelle Beziehung zu ihrem entfremdeten Sohn beginnt. Als Baby hatte sie ihn bei ihrer Mutter gelassen, um ihre Karriere als Ballerina verfolgen zu können. Stever lässt diese moralische Grenzüberschreitung unkommentiert, stattdessen wirft sie Fragen nach der Rolle der Frau, von Mutterschaft, den Erlebnissen der eigenen Kindheit auf. Es ist ein kompromissloser, ein radikaler Film.
Fürsorge in ganz anderem Sinne leistet die junge Mutter Amaia (Laia Costa). Überfordert von der neuen Rolle und alleingelassen von ihrem arbeitenden Freund sucht sie bei ihren Eltern Unterstützung und Zuflucht. Dort gewinnt sie plötzlich eine ganz neue Sicht auf die Beziehung ihrer Eltern. Als ihre Mutter plötzlich schwer erkrankt, verändern sich die Rollen. In ihrem Spielfilmdebüt »Cinco Lobitos« porträtiert Alauda de Azúa ohne Beschönigung das Alltagsleben und Muster, die sich ganz unbewusst von Generation zu Generation weitertragen und aus denen sich nur schwer zu befreien ist.
Der Hochschuldozentin Clara (Anne Schäfer) scheint das gelungen zu sein: Aus der mecklenburgischen Provinz hat sie es in eine Kreuzberger WG geschafft, die jugendliche Tochter wohnt bei dem Vater, sie selbst hat ein Verhältnis mit einem ihrer Studenten. Doch weder in Berlin noch in der Plattenbauwohnung ihrer Mutter oder dem Häuschen der Großeltern hat Clara ein Zuhause gefunden. In Berlin ist sie die Ostdeutsche aus einfachen Verhältnissen, in ihrer Heimat die abgehobene Großstadtakademikerin. Mit einem feinen Gespür für Stimmungen erzählt Annika Pinske in »Alle reden übers Wetter« von der Sprachlosigkeit zwischen den Geschlechtern, Müttern und Töchtern, den Generationen, zwischen Ost und West, Land und Stand. Es ist ein trauriger Film, der von der Entfremdung der Menschen erzählt.
Auch die junge Mukhabbat (Zukhara Sanzysba) hat ihre usbekische Heimat verlassen, um am Stadtrand von Moskau in einem 24-Stunden -Supermarkt zu arbeiten. In roten Schürzen uniformiert beutet die Besitzerin Zhanna (Lyudmila Vasilyeva) die Gastarbeiter:innen finanziell, emotional und sexuell aus. Die Pässe bleiben in ihrem Safe. Alptraumhaft dunkel, von flackernden Neonröhren beleuchtet, schafft Regisseur Michael Borodin einen surrealen Hyperrealismus. In ruhigen Bildern und dadurch umso verstörender erzählt Borodin in »Produkty 24« von der modernen Sklaverei und verknüpft sie mit nur einer auf den ersten Blick für uns fremde Familienkonstellation.
Ähnlich langsam quälend ist die Reise der ebenfalls jungen Fereshteh (Sadarf Asgari) durch Teheran auf der Suche nach einem Menschen, der für eine Nacht ihren zweimonatigen Säugling hütet. Die Studentin muss ihn vor ihren Eltern verstecken, die überraschend vom Land in die Stadt kommen und von dem Baby nichts wissen. Doch in der von Traditionen geprägten iranischen Gesellschaft, die Frauen, noch dazu alleinstehenden, kaum Rechte zugesteht, stößt sie immer wieder an die Grenzen ihres Handlungsraumes. Nur einen Tag dauert diese Reise, die Regisseur Ali Asgari in »Ta farda« sensibel, ohne viele Worte und mit einer ausdrucksstarken Protagonistin beschreibt.
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