Berlinale Forum: Spuren des Menschen
»The United States Of America« (2022)
Eindrücke aus dem Internationalen Forum des Jungen Films belegen: Erinnern kann nachhaltiger sein als Dokumentieren
Das Forum der Berlinale, filmischen Entdeckungen gewidmet, kann naturgemäß selten mit großen Namen prunken. Die Ausnahme in diesem Jahr war James Benning mit »The United States of America«. Benning, Meister der statischen, oft minutenlange, träumerische Gedankenfluchten provozierenden Einstellungen, hat jedem Staat der USA eine knapp zwei Minuten lange, ungeschnittene Sequenz gewidmet, von »Heron Bay, Alabama« bis »Kelly, Wyoming«. Menschenleer sind Bennings Bilder, aber voller menschlicher Artefakte, von den wiederkehrenden Strommasten bis zu den Tönen von Flugzeugen, Lkws, Maschinen. Selbst wenn nur Wolken und Himmel zu sehen sind wie bei »Cleveland, Ohio«, ist die Spur des Menschen bemerkbar. Die Überraschung des Films ist die Information im Abspann, dass Benning all seine minutiös lokalisierten Einstellungen in Kalifornien gedreht haben will, belegt mit einer großzügig unvollständigen Liste der »wahren« Drehorte. Das ist eine radikale Infragestellung des dokumentarischen Films selbst, gerade wenn er sich so konsequent nicht inszeniert, so »rein« präsentiert wie in »The United States of America«. Damit stellt sich der Regisseur in die aktuelle, äußerst unbequeme Diskussion um Fake News und durch Bilder verbürgte Fakten. Über die Wahrheit der Bilder entscheidet, sagt Bennings Film, zuletzt nur ihre Beschriftung. Ihre Zuschreibung.
Wenn wir die Wahrheit von Bildern beurteilen wollen, müssen wir über mehr verfügen als Informationen. Vielleicht Urteilsfähigkeit, Erfahrung oder Gedächtnis. Auch Menschenkenntnis gehört dazu. An all diesen schwer definierbaren Maßstäben gemessen ist »Geographies of Solitude« ein wunderbar wahrhaftiger Film. Und herausfordernd dazu. Jacquelyn Mills porträtiert eine Frau, die seit 40 Jahren die Flora und Fauna einer vor der Ostküste Kanadas gelegenen Insel erforscht, Sable Island – berühmt durch eine Population wilder Pferde und bis auf sie, Zoe Lucas, unbewohnt. Mit ihrer Einsamkeit korrespondiert der von Sternen überfließende Nachthimmel, mit dem der Film beginnt. Von der Geburt eines Robbenbabys bis zu den Schädelknochen der Pferde verzeichnet sie in ihren Computerjournalen alles, was sie auf der Insel findet, vor allem: mehr und mehr Plastikmüll mitsamt seiner Herkunft und den durchschaubaren Absichten seiner Produzenten. Dabei entsteht das Bild einer vollkommen selbstlosen, von wissenschaftlicher Disziplin und klösterlicher Askese bestimmten Existenz. Von allen Forumsbeiträgen erhielt der Film die meisten Auszeichnungen – den Preis der Ökumenischen Jury, den CICAE Art Cinema Award und den Caligari-Filmpreis. Nur eine Regisseurin aus Vietnam hat noch weiter nach der Condition humaine, nach unserem Verhältnis zur Welt und zu uns selbst gefragt, Kim Quy Bui in »Mien ký uc« (Memoryland). Ihr Film dreht sich um das Sterben, den Tod und das Gedächtnis der Nachkommen. Vielleicht wird noch das schamanische Ritual des Rückrufs der Seele in den toten Körper bezahlt, aber die Einäscherung schon der Beerdigung vorgezogen, auch aus finanziellen Gründen. Der Film, so einst Gilles Deleuze, ist das Reich der Geister. Das Reich ihrer Wiederkehr. »Memoryland«, in dem ein Maler die Asche einer von ihm verkannten Liebenden isst und daran erstickt, erinnert uns daran, dass wir darauf hoffen müssen, von unseren Nachkommen nicht vergessen zu werden.
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