74. Filmfestival Cannes
»Titane« (2021)
Mit ihrem Film über eine queere Serienkillerin hat Julia Ducournau sich auf dem Festival von Cannes gegen eine starke Konkurrenz durchgesetzt
Dass die 74. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele von Cannes eine denkwürdige werden wird, stand von Anfang an fest. Weil sämtliche Besucher*innen (wenn auch spürbar weniger als gewöhnlich) nach der pandemiebedingten Pause im vergangenen Jahr ausgehungert waren nach echten Festivalerlebnissen an der Croisette. Weil Thierry Frémaux für sein Programm aus dem Vollen schöpfen konnte – und prompt mehr Filme zeigte denn je. Oder auch weil zwischen zu 100 Prozent ausgelasteten Kinosälen, einem neu eingeführten Ticketbuchungssystem und einem eher fragwürdigen Umgang mit Testkontrollen und Maskenpflicht Corona raumgreifendes Dauerthema war. Doch am Ende entpuppte sich dieser Jahrgang als einer, der für starke Filme in Erinnerung bleiben wird – und eine so überraschende wie verdiente Gewinnerin der Goldenen Palme.
Die Auszeichnung Julia Ducournaus für ihren Film »Titane« – in einem ebenfalls denkwürdigen Fauxpas zu Beginn der Preisverleihung von Jurypräsident Spike Lee ausgeplaudert – ist nicht nur ein Meilenstein in der Geschichte des Festivals, weil die Französin als erst zweite Regisseurin den Hauptpreis mit nach Hause nehmen durfte (Jane Campion hatte sich 1993 ihre Goldene Palme für »Das Piano« noch mit dem chinesischen Kollegen Chen Kaige geteilt). Sie kam vor allem reichlich unerwartet – für einen Film, der vor Ort die Gemüter spaltete und vor allem gänzlich untypisch war für diesen und letztlich alle Cannes-Wettbewerbe.
Ducournau war eine der wenigen Neulinge in der Konkurrenz; ihr viel beachtetes Debüt, der Kannibalenhorrorfilm »Raw«, lief 2016 noch in der Semaine de la Critique. Auch in »Titane«, der Geschichte einer Serienkillerin (die faszinierende Neuentdeckung Agathe Rousselle), die Sex mit Frauen genauso wie mit Autos hat und irgendwann als vermisster Sohn eines Feuerwehrmannes (mal ganz anders: Vincent Lindon) Unterschlupf findet, präsentiert sie nun wieder eine ungestüm-aufregende und sehr queere Mischung aus Genreelementen. Sex und Gewalt springen dabei ins Auge, doch mindestens so entscheidend sind die Momente von Zärtlichkeit und die Darstellung von Einsamkeit, eine doppelbödige Bildsprache und nicht zuletzt eben der dezidiert weibliche Blick der Regisseurin auf Körperlichkeit und Männlichkeitsrituale.
Mehr Adrenalin war im Wettbewerb in diesem Jahr nicht zu haben, auch wenn es durchaus ein paar andere Filme gab, die durch Frische, Unverblümtheit und ein Gespür für den Kinopuls der Zeit auffielen. Der Norweger Joachim Trier etwa begeisterte mit »The Worst Person in the World«, einer leichtfüßigen Tragikomödie über ganz alltägliche Konflikte, die die um 30-Jährigen heutzutage umtreiben, von Trennungen und beruflichen Umorientierungen bis Selbstfindung und Familienplanung. Gerade im Unspektakulären der Biografie der Protagonistin lag hier die Stärke, ganz zu schweigen von der sehenswerten Hauptdarstellerin Renate Reinsve, die verdient mit dem Darstellerinnenpreis ausgezeichnet wurde.
Gänzlich unerwartet traten Leichtigkeit und Humor an anderer Stelle in Erscheinung, nämlich im fantastischen neuen Film von Jacques Audiard. Der Franzose, dessen Arbeiten sich sonst durch eine zupackende Maskulinität auszeichnen, schlägt mit »Les Olympiades« neue Töne an. Rund um einen Hochhausblock im 13. Bezirk von Paris verwebt er in wunderschönen Schwarz-Weiß-Bildern zwei Geschichten, oder besser: die Lebenswege dreier junger, moderner Menschen miteinander. Die Themen, um die es hier geht, sind alltäglich, aber essenziell: Liebe und Sex, Freundschaft und Selbstfindung. Was den Film so besonders macht, sind die Darsteller*innen (allen voran Lucie Zhang und Makita Samba) sowie ein smartes, zartes und vor allem lebensnahes Drehbuch, bei dem sich Audiard nicht zufällig Unterstützung von seinen Kolleginnen Céline Sciamma und Léa Mysius holte.
Dass Audiard am Ende leer ausging (und leider auch Mia Hansen-Løves »Bergman Island«), gehörte zu den wenigen Enttäuschungen bei der Preisverleihung, bei der andere Cannes-Veteranen durchaus bedacht wurden. Asghar Farhadi, von vielen Experten als großer Favorit gehandelt, bekam für seine komplexe Moral- und Gesellschaftsstudie »Ghahreman – A Hero« den Großen Preis der Jury, ex-aequo mit dem liebevollen Freundschafts-Roadmovie »Hytti No. 6« des Finnen Juho Kuosamen. Apichatpong Weerasethakul, Palmen-Gewinner von 2010, erhielt für seinen gewohnt kontemplativen »Memoria« mit Tilda Swinton in der Hauptrolle den Preis der Jury (gemeinsam mit »Ha'Berech« von Nadav Lapid), während Leos Carax für sein Musical »Annette«, mit dem das Festival eröffnet worden war, den Regiepreis bekam. Der Preis für das beste Drehbuch ging an »Drive My Car« von Hamaguchi Ryūsuke, der erst vor wenigen Monaten für seinen vorangegangenen Film den Großen Preis der Jury bei der Berlinale gewonnen hatte.
Altbewährte Regisseure, die gute Filme abliefern, aber nicht ganz zur Höchstform auflaufen, waren eines der Leitmotive im diesjährigen Wettbewerb (vgl. auch Wes Andersons »The French Dispatch«). Ein anderes war Sex: Adam Driver, Marion Cotillard und ein Cunnilingus mit Gesang machten den Auftakt, es folgten Bett- und Nacktszenen, unter anderem in »Titane«, »The Worst Person in the World« oder »Les Olympiades«, aber auch im enttäuschenden »Tre piani« von Nanni Moretti oder Sean Bakers »Red Rocket«, in dem Ex-MTV-Moderator Simon Rex als abgehalfterter Pornostar zu großer Form auflief.
Den Höhepunkt stellte natürlich »Benedetta« dar, Paul Verhoevens Romanadaption über lesbische Nonnen. Wer hier allerdings – neben reichlich Sexismus und mindestens so viel Kritik an der katholischen Kirche – eine Art »Showgirls« im Kloster erwartete, sah sich getäuscht. Trotz einer zum Dildo umfunktionierten Marienfigur fiel die Sache dann doch nicht annähernd so provokant oder albern aus wie erhofft.
Ein großes Thema war in diesem Jahr außerdem die selten unkomplizierte, aber meist intensive Beziehung zwischen Vätern und Töchtern. In »The Worst Person in the World« oder »Tre Piani« ging es darum eher am Rande, in »Annette« nahm die Beziehung zwischen Adam Drivers Stand-up-Komiker und seinem von einer digital animierten Puppe verkörperten Nachwuchs eine düstere Wendung. Ein tödliches Ende fand sie dagegen bei François Ozon und Sean Penn, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise: Während in »Tout s'est bien passé« der Patriarch (André Dussollier) seine Tochter (Sophie Marceau) nach einem Schlaganfall um Sterbehilfe bittet, münden in »Flag Day« toxische Traumata der Vergangenheit in einem Selbstmord aus Aussichtslosigkeit.
Auch qualitativ könnten die beiden Filme kaum verschiedener sein. Während Ozon eine reizvolle tonale Gratwanderung zwischen Tragik und Humor gelang, verhob sich Penn, der neben seiner Tochter Dylan Penn auch die Hauptrolle spielt, auf allen Ebenen und endet in Ödnis. Ein Schicksal, dem Tom McCarthy mit seinem außer Konkurrenz gezeigten »Stillwater« gerade so entging. Viel zu lang geraten ist ihm seine Geschichte eines Amerikaners (Matt Damon), der in Marseille versucht, seine im Gefängnis sitzende Tochter freizubekommen, trotzdem.
Was sonst noch zu sagen bleibt zu Cannes 2021? Auch in den Nebenreihen gab es viel Eindrucksvolles zu entdecken, von Joanna Hoggs »The Souvenir Part II« oder »Hit the Road« von Panah Panahi in der Quinzaine des Réalisateurs bis hin zu vielen starken Filmen in Un Certain Regard, darunter die österreichischen Produktionen »Die große Freiheit« (von Sebastian Meise) und »Moneyboys« (von C. B. Yi), skandinavische Beiträge wie »Lamb« von Valdimar Johanssón und Eskil Vogts »The Innocents« oder auch »After Yang« von US-Regisseur Kogonada. Und dafür, dass Frémaux von Geschlechtergerechtigkeit nach wie vor kaum mehr zu halten scheint als von Netflix (nur vier von 24 Filmen im Wettbewerb stammten von Frauen), sprachen die Urteile der Jurys eine andere Sprache. Nicht nur die Goldene Palme ging an eine Regisseurin, sondern auch der Hauptpreis in Un Certain Regard (Kira Kovalenkos »Unclenching the Fists«), die Kurzfilm-Palme (»All the Crows in the World« von Tang Yi), die Caméra d'Or für den besten Debütfilm (»Murina« von Antoneta Alamat Kusijanović) und die Queer Palm (Catherine Corsinis »La fracture«).
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