Aus dem Norden

Gustav Dyekjær Giese in Nordvest (2013)
Die Nordischen Filmtage in Lübeck, das traditionelle Festival für skandinavische und Filme aus dem Ostseeraum, stellen Jahr für Jahr ein interessantes Programm auf die Beine
Eine Vielzahl der Filme thematisierte den Ausbruch aus der sozialen und räumlichen Enge, die Suche nach Perspektiven. Vielleicht am konzentriertesten in der Retrospektive, die sich um die Polarforschung im Dokumentarfilm drehte. Wie überhaupt das dokumentarische Genre dieses Jahr stark vertreten war. Aska (Asche) von Herbert Sveinbjörnsson widmete sich den Folgen des Vulkanausbruchs 2010 in Island. Der Film porträtiert drei Bauernfamilien, die mit den Auswirkungen fertig werden müssen. Allerdings stören die oft nur fernsehtauglichen Bilder. Prägnanter war Hvellur (Die Laxá-Bauern) von Grímur Hákonarson , der den erfolgreichen Kampf isländischer Bauern gegen eine Kraftwerksfirma in den Siebzigern beschreibt. Mit Archivmaterial, Interviews und Landschaftspanoramen aus der Gegenwart zeichnet der Film die Ereignisse und den Prozess einer politischen Bewusstseinsbildung nach, der legale und illegale Methoden verbindet. Eine lebendige Tradition der Solidarität entsteht, die an die Kinder und Enkel weitergegeben wird. Eine intelligente, sehr ironische Reflexion über das heutige Alltagsleben war Tavarataivas (Mein Zeugs) von Petri Luukkainen aus Finnland, eine Art Selbstversuch des Filmemachers, was man zum Leben braucht. Er verfrachtet all seinen Hausrat in einen Lagerraum und gestattet sich, jeden Tag einen Gegenstand zu entnehmen. Was ist wichtig, was braucht man nur, weil die gesellschaftliche Realität es erfordert? Vielleicht hätte der Zuschauer anders entschieden. Am Ende verbleibt immer noch etliches im Lager. Die Jury zeichnete leider einen Film aus, der zwar gut war, aber zu eilfertig an die Betroffenheit appellierte. Til ungdommen (Tödlicher Sommer) von Kari Anne Moe möchte einerseits das Bild zurechtrücken, dass die Anschläge in Oslo und UtØya vor allem der sozialistischen Jugend gegolten haben, zum anderen deren Auswirkungen bei vier Protagonisten darstellen. Nur kurz blitzt eine radikale Frage auf, als eine Muslima zu bedenken gibt: was, wenn der Attentäter ein Muslim gewesen wäre. Das Ideologem der offenen Gesellschaft stellte ein anderer norwegischer Film infrage. In De Andre (Nirgends zu Hause) von Margreth Olin werden junge Flüchtlinge in Auffanglagern bis zu ihrem 18. Lebensjahr festgehalten und dann abgeschoben. In eingestreuten Fotografien drückt sich ihre Perspektivlosigkeit aus. Vor der Wucht des wohl wichtigsten Films des Festivals, The Act of Killing von Joshua Oppenheimer (epd Film 11/13), schreckte die Jury wohl zurück.
 
Auch beim NDR-Preis für den besten Spielfilm fiel die Entscheidung für das zugängliche Realistische. Jeg er din (Ich bin Dein) von Iram Haq aus Norwegen folgt den Versuchen einer geschiedenen jungen Frau pakistanischer Herkunft, zwischen individuellen Ansprüchen, Moderne und Tradition einen Weg zu finden. Nordvest (Der Nordwesten) von Michael Noer aus Dänemark stellt die Entwicklung eines Jugendlichen und seines Bruders in einem Kopenhagener Stadtviertel mit hohem Immigrantenanteil von der Kleinkriminalität zu Zuhälterei und Drogenhandel auf großem Niveau ins Zentrum. Beide Filme überzeugen durch die genaue Milieuzeichnung und die hervorragenden Schauspieler. Doch fehlt etwas, was über die Bestandsaufnahme hinausweist.
 
Das bot der auch mit dem Interfilmpreis ausgezeichnet I lossens time (In der Stunde des Luchses) von Soren Kragh-Jacobsen aus Dänemark. Er spielt in einem Gefängnis, in dem eine Pastorin einer Psychologin helfen soll, Zugang zu einem jungen Mann zu finden, der scheinbar grundlos ein älteres Ehepaar ermordet hat. Kein theologisches Drama, sondern eine Auseinandersetzung mit Glücks- und Wunschvorstellungen. Der Mörder, der auf Geheiß Gottes gehandelt haben will, die Psychologin, die an Therapien glaubt, das pragmatische Gefängnispersonal, die Pastorin – alle müssen sich der Frage stellen, was das Leben lebenswert macht.

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