Rewind: »Sue – Eine Frau in New York« (1997)
»Sue – Eine Frau in New York« (1997). © Arthaus Filmverleih
Rassistisch? Frauenfeindlich? Muss man das canceln – aus dem Repertoire nehmen? Wir versuchen es anders. In der Serie »Rewind« stellen wir Filme vor, die auf der Höhe ihrer Zeit waren – und heute wieder einen Nerv treffen
Amos Kolleks Frauenporträt von 1997 feiert die Schönheit weiblicher Schwäche. Ein feministisches Unding als filmischer Glücksfall.
»Sue – Eine Frau in New York« (Sue, USA 1997). Regie: Amos Kollek
Der Vermieter ist kein schlechter Kerl: Er könne statt der 400 Dollar, die er ihr in Rechnung stelle, gut und gern 700 Dollar nehmen, erklärt er. Sue sitzt ihm gegenüber und nickt beflissen. Wir sehen ihren schmalen Rücken, die schweren braunen Locken, wir hören ihr Versprechen, den Mietrückstand zu begleichen. In der zweiten Szene sehen wir ihr schmerzhaft schönes Gesicht zum ersten Mal in Großaufnahme. Sie führt ein Bewerbungsgespräch, beteuert ihre Eignung als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei, erwähnt das abgeschlossene Psychologiestudium und bemüht sich, amerikanischen Optimismus zu verbreiten.
In einem kleinen Stadtpark setzt sich ein älterer Schwarzer zu ihr auf die Bank und beginnt ein freundliches Gespräch, das in die Frage mündet, ob sie ihm wohl ihre Brüste zeigen möge. Sue verlangt, unaufgeregt, als habe er in der Bäckerei Brot bestellt, 10 Dollar dafür, dies sei der Tarif. So viel Geld habe er nicht, winkt er ab, und sie plaudern weiter. Er heiße Willie, sagt er, und gehe sich einen Kaffee holen. Ob er ihr eine Limonade mitbringen könne, sie werde ihm das Geld zurückgeben, bittet Sue. Er kehrt zurück, aber er will ihr Geld nicht, und so zeigt sie ihm ihre Brüste. Er lächelt. Es ist der Beginn ihrer Freundschaft.
Diese dritte Szene eröffnet uns also Sues Körper, elegant gewandet, und ihren Gang, ein entschlossen behutsames Schreiten, mit dem sie sich auf die Bank zubewegt. Alles, die milchweiße Haut, das um die Haarpracht geschlungene cremefarbene Seidentuch und der Ton in Ton gehaltene Kaschmirmantel, verleiht diesem Auftritt etwas Elegisches. Es wird sich durch den ganzen Film ziehen, der in keiner Szene auf sie und ihr fragile Weiblichkeit verzichtet, auf ihre Bereitschaft, ihre Schönheit, ihren Körper und damit sich selbst hinzugeben. Die Männer, melancholische und brutale, liebevolle und aggressive, wittern ihre Chancen. Sie greifen zu, und Sue lässt es zu. Weil sie es will und weil sie es nicht will. Selbstaufgabe als Selbstermächtigung – wo Ideologie versagt, beginnt das Paradox.
Das alles im New York der 90er, jenes Jahrzehnts zwischen der mörderischen Vergangenheit der 70er und 80er Jahre und der Zukunft des durchgentrifizierten Reichenzoos im aufziehenden neuen Jahrtausend. Bürgermeister Rudy Giuliani hatte seinem Polizeichef William Bratton freie Hand beim Durchsetzen der »Broken Windows«-Doktrin gelassen. Jener Idee, der zufolge ein einziges kaputtes Fenster einen ganzen Stadtteil kaputt macht, so es nicht gleich repariert wird.
In Sues Leben gibt es viele kaputte Fenster, und wer sie wann eingeworfen hat (und wie viele womöglich sie selbst), erfahren wir nicht. Wir wissen jedoch, wie sehr sich die herumfliegenden Splitter in ihr Fleisch gebohrt haben. Sue blutet aus vielen Wunden – innere Verletzungen allesamt. Der Welt, also den Menschen, denen sie auf ihren unablässigen Streifzügen durch Midtown Manhattan begegnet, schenkt sie ihren Eifer, ihre Freundlichkeiten und nicht selten ihren letzten Cent. Die Streifzüge führen sie in Coffeeshops, Kinos, Bars und immer wieder in den kleinen Park, auf dessen Bank sie asiatisches Take-away-Food verspeist. So stilsicher sie ihren zwischen Audrey Hepburn und der frühen Grace Kelly angesiedelten Look austariert, so ungeschult ist ihre Art zu kommunizieren. Mal reagiert sie so übertrieben entzückt auf ein Baby im Kinderwagen, dass die Mutter empört davonläuft, mal macht sie einem Mann in einer Kunstgalerie unverhohlene Avancen, dessen Frau sie übersehen hat, oder sie lässt die Beschimpfungen eines Mannes, der sie angerempelt hat, vollkommen wehrlos über sich ergehen.
»Ich verstehe mich nicht so aufs Reden, ich kommuniziere nur durch Sex«, sagt sie zu Linda im Waschsalon, als die sie auf ihre Schweigsamkeit anspricht. Sue ist ihr in einer Bar begegnet, wo die angehende Psychologiedoktorin kellnert. Linda mag Sue, sie spendiert ihr Drinks und bietet ihr an, die Mietschulden in Höhe von 1200 Dollar vorzustrecken. Doch in eben dem Maße, wie Sue die Grobheit, der sie immer wieder ausgesetzt ist, routiniert wegzustecken weiß, verunsichern sie Freundlichkeit und Wärme stets aufs Neue. Und Liebe, die vor allem. »Ich kann im Moment keine Beziehung anfangen, weil ich von niemandem verletzt werden möchte«, sagt sie zu Ben aus Minnesota. Der schenkt ihr Blumen, wartet vor der Tür ihres Apartments und meint es ernst. Sie beginnt, es ihm zu glauben, und erlaubt sich ein paar Tage des Glücks. Sie, die, wie sie ihm gesagt hat, viel zu alt sei – über vierzig –, keine Kinder mehr bekommen könne, 1000 Drogen genommen und 1000 Abtreibungen gehabt habe. Und Ben küsst sie und sagt, es sei ihm egal.
Dann verreist er, und sie streunt durch die Straßen von Midtown, wie der verlorene Junge, der sich Charlie Parker nannte, in Jim Jarmuschs 1980 gedrehtem »Permanent Vacation« durch Lower Manhattan streunte. Verlorene Seelen, die darauf hoffen, in den Straßen New Yorks, wenn schon nicht sich selbst, so doch ein paar Brocken Leben zu finden. »Ich bin süchtig nach dieser Stadt, obwohl ich überall sonst glücklicher bin«, hat Sue zu Ben gesagt. Jenem Ben, der sie liebt und den sie liebt und den sie jetzt betrügen wird – mit dem erstbesten Touristen in Midtown, der sie für eine Prostituierte gehalten hat. Erst lachte sie darüber, dann fordert sie 1200 Dollar für eine Nacht, nur um schließlich umsonst mit ihm zu schlafen.
Weil er lieb war, wie Linda lieb war, deren Geld Sue nicht angenommen hat, wie Ben lieb ist, vor dem sie davonlaufen wird. Oder wie Sven, der junge Nachbar, der ihr einen neuen Fernseher besorgt hat, nachdem der alte sich nicht mehr reparieren ließ. Doch als er ihn liefert, stehen Sues Habseligkeiten bereits im Hausflur, vor der vom Vermieter versiegelten Wohnungstür. Sues endgültiger Abstieg beginnt.
Das »Sue« ein Film aus dem letzten Jahrtausend ist, merkt man an seiner Fähigkeit, so wenig zu greifen zu sein wie seine Titelheldin. Anna Thomsons Sue ist ein in die Jahre gekommenes It-Girl, eine späte Nachfahrin jener Stummfilmheldinnen also, die in die Metropolen strömten, um viel Spaß zu haben und dabei sehr gut auszusehen. Und die schließlich dem Kino und sich selbst verloren gingen, als der Tonfilm und das Alter kamen. Dem Hedonismus entwachsen, den Feminismus nie erreicht, streunt auch Sue durch ein ideologiefreies Niemandsland. Sie scheitert zu selbstbestimmt, um ins Opfernarrativ zu passen. Sie ist zu antriebslos, um auch nur in die Nähe einer Starke-Frauen-Folklore zu kommen: »Ich laufe die Straßen rauf und runter, habe Sex mit fremden Männern und sehe zu viel fern«, fasst sie einmal ihr Leben zusammen. Und sie ist zu privilegiert – schön, akademisch gebildet, weiß –, um sich als Heldin eines identitätspolitisch schraffierten Sozialdramas zu qualifizieren.
Im Kino unserer Tage ist lange schon kein Platz mehr für Frauen, die zwischen Heldin und Antiheldin einen Raum besiedeln, in dem Scheitern nicht gleichbedeutend mit Versagen ist. Ein Raum, der sich den Bildern und Begriffen verschließt, die sich die Frauen von sich selbst gegeben haben und die das – mehr und mehr von ihnen selbst inszenierte und produzierte – Kino ihnen nacherzählt. Ein leistungsfreier Raum, in dem diese lost girls weder körperlich noch erzählerisch noch inszenatorisch ihre Muskeln spielen lassen. Ein Raum für Frauen, die nicht nur zerbrechlich sind, um erzählerische Fallhöhe zu schaffen, sondern die es auch tun: Sie zerbrechen. Ein Zerbrechen, das sich nur abseits von Schuldzuweisung und Täter-Opfer-Schemata erzählen lässt, eines, das geschieht. Wie Sandrine Bonnaire in Agnes Vardas »Vogelfrei« oder Ann-Gisel Glass in Sherry Hormanns Debüt »Leise Schatten« ist Anna Thomson als Sue nicht ganz von dieser Welt. Sie sucht die Verbindung: zum Glück, zu den Männern, zu den Zuschauern, und sie gibt allen und allem ihr ganzes Sehnen, ihren ganzen Körper und ihre ganze Schönheit. In der Gewissheit, nie durchzudringen, nie anzukommen in einer Welt, in der ein Stein, ein Begriff und ein Selbstbild auf dem anderen liegen – unserer Welt.
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