Mediathek: Cannes-Retrospektive
»Ich, Daniel Blake« (2016). © Prokino
»Träume unter goldenen Palmen« – unter diesem Titel veröffentlichten Bodo Fründt und Bernd Lepel 1987 ihr Buch über deutsche Beiträge beim Filmfestival in Cannes. Es bietet reichlich Material für ein Kinoquiz: Mit welchen Filmen präsentierten sich die beiden Nachkriegs-Deutschlands bei ihrer ersten Teilnahme 1949 in Cannes? Antwort folgt. Und, hätten Sie's gewusst? Als Koproduktionen segelten im Laufe der Jahre unter anderem John Hustons »Die Weisheit des Blutes« (1979) und Jerzy Skolimowskis »Herzbube« (1972) unter deutscher Flagge an die Côte d'Azur.
Der Festivalvergangenheit widmet sich seit Mai auch Arte, sowohl im linearen Programm als auch in der Mediathek, mit Filmen, die in Cannes oder anderswo prämiert wurden, flankiert von Porträts ausgewählter Filmemacher. Filmemacherinnen fehlen leider in diesem Zyklus. Den Anlass bieten die 74. Internationalen Filmfestspiele von Cannes, die 2020 abgesagt wurden und nun im Juli stattfinden sollen.
In einer solchen Zusammenstellung offenbaren sich mitunter unerwartete Verwandtschaften. Exemplarisch: Ken Loachs »Ich, Daniel Blake« (2016) und Hirokazu Kore-edas »Shoplifters – Familienbande« (2018). Diesen Eindruck unterstreichen die zugehörigen Dokumentationen »Es war einmal . . . Ich, Daniel Blake« und »Es war einmal . . . Shoplifters – Familienbande«. Der Japaner Hirokazu Kore-eda und der Brite Ken Loach, der am 17. Juni seinen 85. Geburtstag feiert, kennen sich persönlich. Der 26 Jahre jüngere Kore-eda: »Ich möchte Ken Loach in nichts nachstehen. Ich bin genauso wütend und möchte all diese Ungerechtigkeiten anprangern.«
Kore-eda wird von Emmanuel Hammon porträtiert, Rémi Lainé widmet sich Ken Loach. An den Anfang stellt er Loachs Bericht über eine Frau, die neben ihrem Kind verhungerte, weil sie bei den britischen Behörden keine Hilfe fand. Lainé verharrt nicht bei den Symptomen der Misere. Er benennt, mit Schützenhilfe von Loach, dessen Drehbuchautor Paul Laverty sowie der Produzentin Rebecca O'Brien, die Ursachen: Es waren die sozialen Einschnitte der konservativen Cameron-Regierung, die viele Bedürftige in Notlagen brachten. Loachs Protagonist wird krankheitsbedingt arbeitslos und gerät in ein gewollt kompliziertes Wirrwarr aus Maßnahmen und Schikanen, das ihn immer tiefer in die Armut treibt.
In Japan verhielt sich die Regierung sehr ähnlich. 20 Millionen Japaner leben unterhalb des Existenzminimums. Kore-edas »Shoplifters« suchen sich daher von vornherein ein Auskommen außerhalb der Amtswege, schlitzohrig, kleinkriminell, aber mit einer gewinnenden Menschlichkeit. Hammon und Lainé beschreiben Filme als das, was sie sind: Teamarbeit. Unter anderem lassen sie eine Besetzungschefin, Kameraleute, Cutter, eine Ausstatterin zu Wort kommen. Löblich. Immer nehmen sie konkreten Bezug auf das in Rede stehende Werk, was zum Verständnis sowohl der handwerklichen Prozesse wie auch der gesellschaftlichen Zusammenhänge beiträgt.
Anders geartet ist »Jacques Audiard – Der Herzschlag eines Cineasten« von Pierre-Henri Gibert. Der Franzose Audiard, bei Arte mit dem preisgekrönten Drama »Der Geschmack von Rost und Knochen« (2012) vertreten, gilt als unzugänglich und erratisch; keine gute Ausgangslage. Gibert behilft sich mit Montagen älterer Interviews, spricht mit Wegbegleitern, arbeitet sich chronologisch durch die Filmografie. Der heute 71-jährige Audiard gab erst 1994 als 42-Jähriger sein Langfilmdebüt, der Beginn einer Reihe außerordentlicher Regiearbeiten. Audiards Verhältnis zum Vater Michel, der ebenfalls in der Filmbranche tätig war, beeinflusst sein Schaffen und wird dementsprechend beleuchtet.
Doch es bleiben Lücken. Audiards regelrechter Hass auf die »Handwerker« des Films wird angesprochen: »Es muss nicht immer alles harmonisch vonstattengehen«, murrt er schon in der Einleitung. Darüber hätte man gern mehr erfahren, über das Klima am Set, besonders aus drittem Munde. Es bleibt bei Andeutungen, so wie auch der Antisemitismus Michel Audiards ein bisschen sehr zügig abgehakt wird.
Politisch unterfüttert sind alle Beiträge dieser Auslese. Zum Programm gehören die Erstausstrahlungen »Another Day of Life« (2018) von Raúl de la Fuente und Damian Nenow sowie Jafar Panahis »Drei Gesichter« (2018). De la Fuente und der Animationszeichner Nenow koppeln in »Another Day of Life« dokumentarische Interviews und Fotos mit Animationssequenzen. Der fünfköpfige Autorenstab folgt den Erlebnissen des 2007 verstorbenen polnischen Kriegsreporters Ryszard Kapuściński, der 1975 aus dem kurz vor der Unabhängigkeit stehenden, seiner Bodenschätze wegen heftig umkämpften Angola berichtete. Draufgängerisch wagte er sich bis an die vorderste Front, bezeugte die Invasion der Südafrikaner, die Intervention der Kubaner. Er lernte idealistische junge Kämpfer kennen, die bereits Pläne für sich und ihr Land schmiedeten, den Krieg aber nicht überlebten.
Jafar Panahis »Drei Gesichter« dürfte eigentlich gar nicht existieren, denn der iranische Regisseur, schon 1995 mit seinem Erstling »Der weisse Ballon« (1995) in Cannes ausgezeichnet, wurde mit einem Berufs- und Ausreiseverbot belegt. Trickreich schafft er es dennoch, mit einfachsten Mitteln gedrehte und doch eindringliche Filme herzustellen, die er ins Ausland schmuggeln lässt. »Drei Gesichter« entwickelt sogar gehörigen Thrill: Der prominenten Schauspielerin Behnaz Jafari, sie spielt sich selbst, wird ein Video einer verzweifelten jungen Frau übermittelt, die von ihrer Familie gehindert wird, den Schauspielberuf zu ergreifen. Sie erhängt sich vor laufender Handykamera. Aber ist das Video echt? Jafari und der befreundete Jafar Panahi machen sich auf den Weg in die Berge, um nach dem Mädchen zu suchen.
Der älteste Film in dieser Arte-Kollektion ist Andrzej Wajdas »Der Kanal« (1957) über den Warschauer Aufstand im Herbst 1944. Die schlecht ausgerüsteten Freiwilligen werden von den Deutschen eingekesselt, es bleibt nur die Flucht durch die Abwasserkanäle. Ein Labyrinth, in dem man schnell verloren gehen kann . . . Diese klaustrophobischen Szenen sind die wirkungsvollsten dieses Films, der semidokumentarisch wirkt und subtil mit symbolischen Bildmotiven angereichert ist. Sehenswert allein schon wegen der hervorragend restaurierten Fassung, die die gesamte Grauwertskala des monochromen Materials sichtbar macht.
Allein in diesem Punkt schon ein Kontrast zum bundesdeutschen Beitrag von 1960, Wolfgang Staudtes »Der letzte Zeuge«. Ein Kolportagestoff über eine Lebedame – da mag Rosemarie Nitribitt Pate gestanden haben –, deren Säugling ermordet wird. Polizei und Staatsanwaltschaft stempeln von vornherein das sündige »Fräulein« zur Täterin. Erst vor Gericht gelingt es einem findigen Strafverteidiger, die traumatisierte Frau zu entlasten. Der Aspekt, der Staudte an diesem Sittenbild interessiert haben mag: Das damalige Justizsystem verunmöglichte eine angemessene Verteidigung. Der Anwalt erhält nicht einmal Akteneinsicht.
Dass der Film in Cannes für die Goldene Palme nominiert wurde, erscheint aus heutiger Warte eher kurios. Suggestive Schnitte zu Beginn, eine »Guerilla«-Aufnahme, in der die Hauptdarstellerin Ellen Schwiers wie im Schockzustand durch Hamburg läuft, stechen heraus. Bestimmend aber sind die nachlässige Ausleuchtung, erkennbar künstliche Kulissen, eine disparate Schauspielerführung.
Bleibt noch die Rätsellösung: Josef von Bákys »Der Ruf«, Hans Bertrams »Eine grosse Liebe«, Helmut Käutners »Der Apfel ist ab«, Kurt Maetzigs »Die Buntkarierten«.
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