Mediathek: »All You Need«

»All You Need« (Serie, 2021). © ARD Degeto/Andrea Hansen

»All You Need« (Serie, 2021). © ARD Degeto/Andrea Hansen

Queerer Alltag

In der »Lindenstrasse« küssten sich 1990 zum ersten Mal im deutschen Fernsehen zwei Männer. Seither ist hier aus schwuler (oder allgemein queerer) Sicht erschreckend wenig passiert. Sicher, in Daily Soaps wie »Verbotene Liebe« oder »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« gehört LGBTQ-Personal inzwischen selbstverständlich dazu, und nicht zuletzt hiesige Produktionen für Streaming-Plattformen sorgen für mehr Vielfalt. Aber eine Serie mit ausschließlich queeren Protagonist:innen? Was im englischsprachigen Raum schon vor Jahren auf der Tagesordnung stand, war bei uns bislang offenkundig genauso wenig vorstellbar wie ein schwuler »Tatort«-Ermittler.

Dass damit nun Schluss ist, dafür sorgt Drehbuchautor und Regisseur Benjamin Gutsche (zuletzt für die Bücher von »Arthurs Gesetz« verantwortlich). Dessen neue, für die ARD-Mediathek produzierte Serie »All You Need« ist geradezu eine überfällige Revolution. Denn keiner der vier Protagonisten hier ist heterosexuell. Weder der gerne feiernde Langzeitstudent Vince (Benito Bause), noch der verschlossene Fitnesstrainer Robbie (Frédéric Brossier), in den er sich nach einem Toiletten-Quickie verknallt. Und auch nicht sein bester Freund Levo (Arash Marandi) oder dessen frisch geouteter Freund und Exfamilienpapa Tom (Mads Hjulmand), die gerade zusammenziehen.

In der ersten von fünf Folgen holpert »All You Need« noch ein wenig: Wenn etwa die Nachbarin und beste Freundin (Christin Nichols) Vince fragt, warum er fremden Männern Bilder seines Penis schickt, wähnt man sich kurz im altbewährt-piefigen Erklärbär-Modus der Öffentlich-Rechtlichen. Doch spätestens ab der zweiten findet die Serie ihren Groove – und entwickelt Qualitäten, wie man sie hierzulande kaum für möglich gehalten hätte. Die Dialoge sind von ungekünstelter Echtheit, und gerade was die Vielfalt schwuler Erfahrungen und Alltagsmomente angeht, ist deutlich zu spüren, dass mit Gutsche hier jemand weiß, wovon er spricht.

Das Verhältnis zu Queerness, aber auch Sexualität ist unverkrampft, und die unverbrauchten Hauptdarsteller sind durch die Bank überzeugend. Mit dem enorm charismatischen Benito Bause im Zentrum kann man hier sogar einem Stern beim Aufgehen zusehen.

Die eigentliche Handlung ist dabei – vergleichbar mit ähnlich gelagerten internationalen Serien wie »Queer as Folk« oder »Looking« – insgesamt nicht ganz so interessant wie die Figuren und ihre inneren Konflikte. Ohne dass es gezwungen wird, lässt sich an diesem Quartett (das dennoch aus greifbaren Individuen besteht) eine ganze Vielfalt schwuler Lebensrealitäten nachvollziehen. Und die Selbstverständlichkeit, mit der auch andere Themen Raum bekommen (etwa durch den von Vince erlebten Rassismus), ist so erfreulich wie der gelungene Spagat zwischen Ernst und Humor. Was für ein Glück, dass es in Deutschland endlich eine solche Serie gibt, für die übrigens auch noch über eine Ausstrahlung im linearen Fernsehen nachgedacht wird und eine zweite Staffel bereits bestellt ist.

Meinung zum Thema

Kommentare

Über zwei Jahrzehnte nach »Queer as Folk« (UK 1999, US 2000) zieht die ARD mit der Degeto-üblichen Mischung aus lieb gemeint und pädagogisch wertvoll nach und verklappt sie im Nachtprogramm. Die queere Community bekommt ihr Zuckerl, ohne Otto Normalverbraucher groß zu behelligen.

Tom, der interessanteste Mann aus der ersten Staffel, darf noch mal kurz durchs Bild laufen, der Rest der Truppe vergällt einander Staffel zwei mit Gschiß um Verwechslung von Liebe und Sex. Tom und Vincent hatten Letzteres, nicht mehr und nicht weniger — na und??? Kriegt euch wieder ein!

Lichtblick der zweiten Staffel ist Andreas, bäriger Rugbytrainer und Gelegenheitsdragqueen, der allerdings leider über den Nebenrollenstatus des weisen Nestor nicht hinauskommt.

Die selbstgerechte und moralinsaure Hauptperson spiegelt die Generation Z perfekt wider. Bester Satz: »Sorry Vince, aber du bist hier nicht das Opfer.«

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