Die Miniserie: Vom Fortsetzungsroman zum TV-Event
»Am grünen Strand der Spree« (Miniserie, 1960). © Studio Hamburg Enterprises
Dickens und Balzac werden gern als Vorläufer des neuzeitlichen Qualitätsfernsehens bezeichnet. Hier stimmt es mal: Das Phänomen »Miniserie« geht auf die europäische Massenliteratur des 19. Jahrhunderts zurück. Harald Keller über ein Erfolgsmodell von dem sich auch deutsche Sender gerade wieder Quote versprechen
In Westdeutschland begann das Zeitalter der kapitelweisen TV-Erzählung 1959 mit der auf sechs Abende verteilten Verfilmung des Kriegsromans »So weit die Füße tragen«, die Geschichte einer Flucht aus einem sibirischen Gefangenenlager. 1960 folgte »Am grünen Strand der Spree« mit fünf in eine Rahmenhandlung gefassten Episoden, die aus der damaligen Gegenwart in und vor die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückblendeten. Darin bediente das Autorenduo Fritz Umgelter, auch Regie, und Reinhart Müller-Freienfels die in jenen Jahren populäre Fama vom untadeligen deutschen Landser, der dem verbrecherischen Nationalsozialismus fernsteht. Andererseits zeigte Regisseur Umgelter, lange vor dem US-Vierteiler »Holocaust«, in eindeutigen Bildern den Massenmord an polnischen Juden nebst einem Protagonisten, der sich angesichts der Gräueltaten zerquält feiger Untätigkeit bezichtigt. Dominik Graf beschrieb den Mehrteiler als »eine Art Traum-Kursbuch durch deutsches Leiden und Lieben und Irrewerden an sich selbst«.
Romane in Rationen
Großproduktionen wie diese rangierten handwerklich auf dem Niveau von Kinofilmen mit kleineren Budgets und wurden als »Fernsehroman« präsentiert. Durchaus berechtigt – viele Mehrteiler beruhten auf literarischen Vorlagen. Zugleich übernahmen die Autoren Muster serieller Erzählungen, die sich mit dem Aufkommen der Massenpresse im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten. Auf diesem Markt konkurrierender Druck-Erzeugnisse dienten Fortsetzungsromane der Leser-Blatt-Bindung. Autoren wie Honoré de Balzac, Alexandre Dumas, Eugène Sue publizierten ihre Romane zunächst periodisch.
Schon für sie galt die »Quote«: Als Charles Dickens' Roman »Martin Chuzzlewit« nicht die gewünschte Nachfrage erzielte, änderte der Autor den Handlungsverlauf, schickte den Titelhelden in die USA und baute einen Immobilienbetrug nach realem Vorbild ein. Kaum anders handeln die Autorenstäbe heutiger Soap-Operas, wenn es gilt, das Interesse des Publikums zu wahren oder neu zu entfachen. Auch »Headwriter« und den »Writer's Room« gab es schon. Alexandre Dumas beispielsweise skizzierte Handlungsbögen und ließ sie von angestellten Autoren ausarbeiten.
Frauen, die an Klippen hängen
Mit der Kinematografie entstand der Presse starke Konkurrenz. Kampagnenartig wurde die Leinwandepik als niveaulos und jugendgefährdend verfemt, doch der Siegeszug des neuen Mediums war nicht aufzuhalten. Die Verleger sahen's ein und suchten die Zusammenarbeit. Das Verlagshaus McClure initiierte 1912 eine Kooperation zwischen der dort publizierten Zeitschrift »The Ladies' World« und der Edison Company. Verabredet wurde, die Filmerzählung »What Happened to Mary« monatlich in zwölf einaktigen Folgen in die Kinos zu bringen. »The Ladies' World« veröffentlichte die Kapitel in Fortsetzungsform. Der Abdruck begann am 26. Juli 1912, begleitet von einem Gewinnspiel und mehreren Artikeln, die die Kinematografie als Kunstform würdigten.
Mehrteiler mit den Publikumslieblingen Mary Fuller, Ruth Roland, Pearl White eroberten die Leinwände. »The Perils of Pauline« (1914) mit Pearl White wurde des Erfolges wegen von dreizehn auf zwanzig Episoden verlängert. In den melodramatisch-aktionsreichen, teils mit anderen Genres wie dem Western oder Piratenfilm gekreuzten Geschichten gerieten junge Frauen verlässlich in Bedrängnis. Gern griffen tapfere Gentlemen rettend ein; die Akteurinnen waren indes keineswegs hilflos. Ruth Roland und Pearl White wagten tollkühne Stunts; und sie behaupteten sich nicht nur in der Fiktion: Roland produzierte, White investierte erfolgreich in Immobilien und Rennpferde. Die Kollegin Mary Fuller schrieb Drehbücher.
Der hohe Frauenanteil hatte Methode. Mit den couragierten Heldinnen sollten die im Publikum unterrepräsentierten Zuschauerinnen gewonnen werden, ähnlich wie später in den Hörfunk- und TV-Soaps vor allem des Nachmittagsprogramms. Nach Art der Fortsetzungsromane endeten die Episoden meist mit einer unaufgelösten Spannungssituation, einem cliffhanger, sodass das Publikum dem kommenden Kapitel ungeduldig entgegensah.
Der unfassbare Verbrecherkönig
In Frankreich vollzog sich zeitgleich eine ähnliche Entwicklung. Victorin Jasset, Pionier der Gattung Serial, sprach in diesem Zusammenhang vom »ciné-roman« und griff 1910 direkt auf einen Zeitungsroman zurück, als er die von Léon Sazie für den »Matin« entworfene Figur des maskierten Schwerverbrechers Zigomar ab 1910 in mehreren Serials in die Kinos brachte. Die Mehrteiler von Jasset und Louis Feuillade wie »Judex«, »Les Vampires«, »Fantômas« reflektierten das von Verbrechen und Skandalen geprägte Zeitgefühl und begründeten, Anleihen beim Schauerroman eingeschlossen, den französischen Kriminalfilm. Der erste »Fantômas«-Zyklus von 1914 hatte drei, die nach 1915 gedrehten Serials hatten selten weniger als zehn Teile. Um 1920 galt ein Format von zwölf Episoden mit jeweils zwischen 600 und 900 Metern Film als lockere Norm. Zwar gelang Fantômas, dem König der Verbrecher, regelmäßig die Flucht vor seinen Verfolgern, dennoch hatte jede Episode ein vorläufiges Ende. Anders verhielt es sich mit dem 1915 in Frankreich angelaufenen US-Import »Les Mystères de New York«, im Original »The Exploits of Elaine«. Das von zweiundzwanzig auf vierzehn Episoden komprimierte Serial war derart verwoben, dass die Zuschauer, wollten sie an jeder Wendung der Geschichte und an deren Auflösung teilhaben, für jede der in wöchentlichem Abstand aufgeführten Fortsetzungen eine Kinokarte lösen mussten. Von vielen Stoffen gab es später Remakes. Die erste Fantômas-Adaption entstand 1920 in den USA, in den 1960ern gab es eine populäre Kinoreihe und 1980 einen von Claude Chabrol und Juan Luis Buñuel inszenierten, vom ZDF koproduzierten TV-Vierteiler mit Helmut Berger.
Draufgänger und Dunkelmänner
In den USA und Frankreich veränderte sich mit voranschreitenden Jahren die Programmgestaltung der Filmtheater. Die Hauptvorstellungen wurden nunmehr mit abendfüllenden, abgeschlossenen Spielfilmen bestritten. Die Serials wanderten in die Vor- und Nachmittagsvorstellungen und wandten sich fortan mit naiv-zirzensischen Inhalten, darunter zahlreiche Comicadaptionen, vorrangig an ein junges Publikum, das fürs Taschengeld temporeiche Weltraum-, Wildwest- oder Dschungelabenteuer serviert bekam.
Um rentabel zu sein, mussten Serials kostengünstig produziert werden, mit bestehenden Kulissen, Archivmaterial, Hauptfiguren wie Zorro, The Lone Ranger, Batman, deren Masken es erlaubten, den teuren Star durch ein billigeres Double zu ersetzen. In den USA ermöglichte diese Sparte unabhängigen Kleinproduzenten die Marktteilhabe im Schatten der großen Filmkonzerne. Diese Nischenhersteller waren prädestiniert, das neu aufkommende Fernsehen zu beliefern, das anfangs auf billige Programme angewiesen war. Hier ließen sich die Serials erneut verwerten, im Original oder in neuer Schnittfassung.
Im Weiteren spielte das Serial im Sinne von geschlossenem Mehrteiler im kommerziellen US-Fernsehen vorerst nur eine geringe Rolle. Lang laufende episodische, anthologische und Fortsetzungsserien – nunmehr nach ihren Hörfunkvorbildern in Anspielung auf die rahmende Werbung Soap-Operas geheißen – mit wiederkehrenden Programmplätzen vereinfachten die Erstellung langfristiger Sendepläne, sicherten eine solide Wirtschaftsplanung und den Herstellern verlässliche Einnahmen, weshalb bald auch die großen Filmstudios, denen aus kartellrechtlichen Gründen der angestrebte Besitz von Fernsehstationen verboten war, ab Ende der 1940er-Jahre TV-Produktionsabteilungen gründeten.
Vergangenheitsbewältigung und Verbrecherjagden
In Westdeutschland hatte das Nachkriegsfernsehen in Hamburg und damit in der britischen Besatzungszone begonnen. Organisation, Programmstruktur und Inhalte folgten dem Vorbild der britischen Rundfunkanstalt BBC, deren Fernsehkanal bereits seit 1946 wieder sendete. Dort findet sich, was bis heute unsere linearen Programme bestimmt: Familienserien, Fernsehköche, Quiz- und Talentshows, Mehrteiler, darunter ein früher TV-Auftritt von Sherlock Holmes (1951).
Westdeutschland adaptierte indes die auf Spannungseffekte getrimmten Mehrteiler des britischen Krimiautors Francis Durbridge, die bereits im Hörfunk erfolgreich gewesen waren und nun die Zuschauer vor den Fernseher zogen. In einem Maße, dass Kinos, Theater und Vereinsleben zeitweilig verwaisten. Der Reigen der Durbridge-»Straßenfeger« begann 1959 mit der schlichten Studioproduktion »Der Andere«. Der Aufwand stieg bis hin zum Auslandsdreh mit der Starbesetzung Hardy Krüger, Sonja Ziemann, Eva Renzi, dem Einsatz von Hubschraubern, ausgeklügelten Plansequenzen und der treibenden Musik der Avantgardegruppe Can in dem Dreiteiler »Das Messer« (1971).
Für das ZDF kopierte Herbert Reinecker die Durbridge-Masche in Mehrteilern wie »Der Tod läuft hinterher« (1967) und »11 Uhr 20« (1970), beide mit Joachim Fuchsberger und weiteren prominenten Schauspielern. Mit internationalen Partnern produzierte das ZDF attraktiv ausgestaltete Weihnachtsmehrteiler nach bekannten Abenteuerromanen wie »Die Schatzinsel« (1966), »Die Lederstrumpferzählungen« (1969) und »Der Seewolf« (1971).
Das True-Crime-Genre wurde unter anderem von der ARD mit »Die Gentlemen bitten zur Kasse« (1966) bedient. Weiterhin entstanden hochwertige Literaturverfilmungen. Beidseits der Zonengrenze erfreute sich Hans Fallada großer Beliebtheit. Der NDR produzierte 1973 den Fünfteiler »Bauern, Bonzen und Bomben«, das DDR-Fernsehen verfilmte 1964 »Wolf unter Wölfen« als Vierteiler mit Armin Mueller-Stahl, der auch als Agent gute Figur machte und ab 1973 in Das unsichtbare Visier flüchtige Nazis in Südamerika aufspürte und die Bundesregierung ausspionierte.
Eines der ungewöhnlichsten Projekte des westdeutschen Fernsehens war »Journal 1870/71« (1970). Darin berichteten bekannte TV-Journalisten wie Gerd Ruge und Georg Stefan Troller über den Verlauf des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 bewusst anachronistisch in Form einer Wochenschau. Prämiert und kontrovers diskutiert wurde der ZDF-Sechsteiler »Tod eines Schülers« (1980), der aus wechselnden Perspektiven den Suizid eines Abiturienten nachzuvollziehen sucht. Aus Furcht vor dem Nachahmungseffekt wurde die Produktion erst 2009 für eine DVD-Veröffentlichung freigegeben.
Rainer Werner Fassbinder drehte für den WDR die Mehrteiler »Acht Stunden sind kein Tag« (1972/73), »Welt am Draht« (1973) und »Berlin Alexanderplatz« (1980). Internationale Aufmerksamkeit fanden Edgar Reitz' »Heimat« (1984 BRD, 1985 USA) und die TV-Fassung von Wolfgang Petersens »Das Boot« (1984 Großbritannien, 1985 BRD und USA). In Großbritannien, wo zu einer Serienstaffel selten mehr als sechs Folgen gehören – im Gegensatz zu den aus den USA gewohnten zehn oder gar zwanzig –, entstehen bis heute richtungsweisende Mehrteiler wie »The Singing Detective« (1986), »House of Cards« (1990), »State of Play« (2009), »Black Earth Rising« (2018), um nur ein Minimum zu nennen.
Amerika zieht nach
Verbreitet, aber falsch ist die These, wonach die Kinoprominenz erst dank der Finanzkraft der Streaming-Unternehmen Gefallen an Serien und Mehrteilern fand. 1968 standen Curd Jürgens und Senta Berger, beide international gefragt, für den ZDF-Dreiteiler »Babeck« vor der Kamera. Bernhard Sinkel gewann 1986 Burt Lancaster und Julie Christie für seinen Vierteiler »Väter und Söhne«. Deutsche Schauspieler wie Wolfgang Preiss und Joachim Hansen waren 1983 in der siebenteiligen US-amerikanischen Herman-Wouk-Verfilmung »Der Feuersturm« neben Größen wie Robert Mitchum und Ali MacGraw zu sehen.
Die kommerziellen US-Sender hatten Anfang der 1970er-Jahre begonnen, nach europäischem Vorbild prestigeträchtige Mehrteiler zu produzieren. TV-Ereignisse wie »Roots« (1977), die vierteilige TV-Fassung von »Der Pate« (1977), »Holocaust« (1978) und »Shogun« (1980) wurden allesamt Exportschlager. Die Abokanäle knüpften später an diese Produktionspraxis an. 1996 inszenierte Cher für HBO Demi Moore, Sissy Spacek und Anne Heche in »Haus der stummen Schreie«. Al Pacino, Meryl Streep und Emma Thompson spielten 2003 die Hauptrollen in Mike Nichols' preisgekröntem Sechsteiler »Engel in Amerika«.
Eine historische Kluft zwischen Fernsehen und Kino gibt es nicht. Die Gremien der Golden Globes berücksichtigen seit je beide Zweige. Ein beredtes Beispiel: 2007 war Helen Mirren dort als beste Schauspielerin einer Kinoproduktion und gleich zweier TV-Mehrteiler nominiert. Sie gewann in beiden Kategorien.
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