Berlinale: Selbstbehauptung
»Freizeit oder: Das Gegenteil von Nichtstun« (2021). © Okno und Markus Koob
Seit sieben Jahren veranstaltet der Verband der deutschen Filmkritik die Woche der Kritik. Die Auftaktkonferenz beschäftigte sich mit »Konsequentes Handeln, inkonsequentes Kino«
Zur Berlinale 2015 stellte der Verband der deutschen Filmkritik erstmals das Veranstaltungsformat vor, das praktische Konsequenzen aus der Unzufriedenheit mit dem Festival-Regime der Berlinale unter Dieter Kosslick ziehen sollte. Ausgehend von einer zuvor veröffentlichten Flugschrift für »aktivistische Filmkritik«, die das Ende der Programmkinos und eine Flut »formelhafter« Arthouse-Filme beklagte, entstand die Idee eines Gegenfestivals, dessen Name auf das große Vorbild der Semaine de la Critique beim Festival in Cannes verweist, aber auch einen Raum für die Reflexion der »filmkritischen Praxis« bieten soll. »Eigenständiges Denken« statt »Marktlogik«, Filmkunstkritik statt PR-nahem Rezensionswesen, Festivals als Drehscheiben für ein zeitgemäßes und formbewusstes Kino – diese Forderungen sollten das neue Festival auszeichnen.
Die Woche der Kritik stellte auch 2021 parallel zur Online-Berlinale ein kuratiertes Programm mit abseits vom planierenden Filmförderbetrieb entstandenen Produktionen vor, die es aus den Arbeitszimmern und Wohnküchen der internationalen Gäste virtuell zu befragen und zu verteidigen galt.
Unter dem Stichwort Kunstsprache wurden beispielsweise Caroline Pitzens Berliner Improvisationsstück »Freizeit Oder: Das Gegenteil von Nichtstun« und Camille de Cheneys Paris-Trip »Un Musée« dort miteinander diskutiert. Caroline Pitzens Milieufilm begleitet eine Gruppe sympathisch redseliger Berliner AbiturientInnen, die sich scheinbar autonom im luftleeren Raum ihres abgesicherten Ambientes über die großen Themen Wohnungspolitik und Kapitalismuskritik austauschen, Marx-Texte und »Kuhle Wampe« entdecken und dem Klischee der unpolitischen Jugend die cool gedimmte Emphase wissender, ihrer linken Haltung theoretisch absolut sicherer Talking Heads entgegensetzen.
Vollkommen anders poetisiert Camille de Cheneys surrealer Tagtraum »Un Musée« dort, das an Jacques Rivettes detektivische Irrläufe angelehnte Genre Paris-Film. Kamera und Bildmontage machen die obsessive Suche eines scheinbar heimatlosen jungen Romantikers nach seiner verloren geglaubten Geliebten zu einem Trip in stille Ecken der Metropole, z. B. das Ateliermuseum des symbolistischen Malers Gustave Moreau, vor dessen Gemälde »Jupiter und Semele« er sich in seinen introvertierten Liebeswahn hineinsteigert. Zauberhaft sprechende Bäume im Park Butte Chaumont und rund um ein genretypisches Landhaus schaffen es nicht, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Choreografisch präzise schafft der Film ein »atmendes« Timing und magische Unterströme, mit deren visuellem Reichtum Camille de Cheney das Stereotyp romantischer Liebe unterläuft: Ihr Protagonist hatte selbst die Geliebte verlassen und wird mit ihrem handfesten Zweifel an seinem romantisch verklärten Stalking konfrontiert.
Harte Kontraste setzten die Dokumentarfilme, etwa der chilenische »The Sky Is Red«. Francina Carbonell rekonstruiert aus Ton- und Bildfragmenten von Überwachungskameras und Telefonaten, dem überlieferten, frei zugänglichen Ermittlungsmaterial der Strafjustiz die grausige Eskalation einer Brandkatastrophe im Männergefängnis von Santiago de Chile, bei der 80 Insassen 2010 ums Leben kamen, keiner der hilflos passiven Aufseher jedoch verurteilt wurde. Ein absolut gegensätzliches intensives Erlebnis war der schwarz-weiße indische Dokumentarfilm »Watch Over Me«, in dem die Regisseurin Farida Pacha drei erschöpfte, den Tod souverän akzeptierende Palliativmedizinerinnen auf dem Weg zu ihren Krebspatienten in New Delhi begleitet.
Leider ließ die Harmonie zwischen Kritik und Regie die erhofften Debatten meist versanden, so dass die Intentionen der eingeladenen RegisseurInnen im Mittelpunkt standen. Nachhaltiger wirken die Essays und Blogbeiträge auf der Webseite, die den state of the art der Diskurse aus dem Umfeld der Woche der Kritik spiegeln.
Einem Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis war wie stets ein einleitendes Symposium gewidmet, in diesem Jahr unter dem vagen Thema »Konsequentes Handeln, inkonsequentes Kino«. Die amerikanische Cineastenlegende B. Ruby Rich nutzte ihre Keynote zu einer charmanten Hotelzimmerpräsentation ihrer Philosophie, in der das Promoten guter, ihr am Herzen liegender Filme und die beständige gedankliche Reflexion der filmkünstlerischen Ausdrucksmittel einander ergänzen. Filmkritik bildet ihr zufolge einen vitalen öffentlichen Resonanzraum, in dem Filme und Filmkritik miteinander korrespondieren – ein Standpunkt, der 60 Jahre alte Positionen zur intellektuellen Selbstbehauptung, wie sie in der Zeitschrift »Filmkritik« formuliert wurden, wiederbelebt.
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