Dokumentarfilmfestival »Flahertiana« 2020
»Sing Me a Song« (2019). © Real Fiction Filmverleih
25 Jahre Dokumentarfilmfestival »Flahertiana« im russischen Perm
Vor 25 Jahren wurde in der Fast-Millionen-Stadt Perm, 1200 km nordöstlich von Moskau, am Ural-Gebirge, das Dokumentarfilmfestival gegründet, das sich eine Gruppe prominenter Regisseure der Swerdlowsk Film Studios im (für russische Verhältnisse mit 370 km) fast benachbarten Jekaterinburg ersehnt hatte. Sie wollten in ihren Dokumentarfilmen nach dessen Zerfall die Wahrheit über das sowjetische Imperium erzählen und dabei endlich die einfachen Menschen in den Mittelpunkt stellen. So wie es über 70 Jahre zuvor ihr Vorbild, der amerikanische Dokumentarfilm-Pionier Robert J. Flaherty in »Nanuk, der Eskimo« (Nanook of the North) getan hatte.
Für mich waren das schöne Aussichten: als Mitglied der FIPRESCI-Jury mal wieder nach Russland zu reisen, russische Filmemacher*innen und Kolleg*innen zu treffen und beim Jubiläum die Atmosphäre und Gastfreundlichkeit des in der Branche sehr beliebten Festivals zu genießen. Aber Corona verhinderte auch das: Wie fast alle Filmfestivals fand »Flahertiana« für mich und die meisten Journalisten und Gäste nur virtuell, mit Streams auf dem heimischen Monitor statt.
Nur wenige Filme, die man auf einem Festival sieht, enthalten ikonische Bilder oder Einstellungen, die perfekt das jeweilige Werk repräsentieren und sich gleichzeitig ins Langzeitgedächtnis eintragen. Bei »Flahertiana« war es eine Einstellung in dem Dokumentarfilm »Sing Me a Song«. Eine Kamerafahrt mit jungen Mönchen in einem buddhistischen Bergkloster in Bhutan: Von der Nahaufnahme eines sich immer wieder verbeugenden Mönchs schwebt die Kamera zurück über einen langen schmalen Tisch und zeigt dabei die ganze Teenager-Gruppe der sich beugenden und lautstark betenden Mönche. Sie sitzen eng aneinander gedrängt vor alten Dokumenten, blicken aber nur auf ihre Smartphones und scrollen durch Posts und Bildergalerien oder spielen, während sie gemeinsam ihre Gebete abspulen (»Deine Macht besiegt die Scharen des Übels, Gott aller Götter«).
In seinem ausgezeichnet gefilmten und montierten Langzeit-Porträt erzählt der in Paris geborene Regisseur Thomas Balmès die Geschichte von Peyangki, einem Jungen, der als kleines Kind ins Kloster kam, dafür bestimmt, ein bedeutender Mönch zu werden. Zehn Jahre später fährt Peyangki hinunter in die Stadt, um zum ersten Mal seine Freundin zu treffen, die er in einer Chatgruppe kennengelernt hat. Dort muss er feststellen, dass sie schon Mutter ist und Dinge vom Leben erwartet, die er ihr nicht bieten kann.
Mit seiner visuellen Schönheit und seinen handwerklichen Qualitäten wirft der Film – wie eine Reihe von anderen im Festivalprogramm von »Flahertiana« – die allgemeine Frage nach Authentizität im aktuellen Dokumentarfilm auf. »Sing Me a Song« überwältigt immer wieder mit dramatisch starken Sequenzen und wunderbar fotografierten Kameraschwenks und -Fahrten, die manchmal mehr an Bertoluccis »Der letzte Kaiser« als an irgendeinen Dokumentarfilm erinnern. In anderen Szenen wird das Gefühl einen Spielfilm anzuschauen noch stärker, wenn sich da zum Beispiel die beiden Jungmönche in Anwesenheit der neben ihnen fahrenden Kamera über ihre existenziellsten Probleme unterhalten: bleiben oder das Kloster verlassen. Aber – hey! – warum nicht, wenn sie doch auch ihre privatesten Details bei Facebook und Instagram mit Millionen anderen Usern teilen.
Während »Sing Me a Song« die gewaltigen Veränderungen zeigt, die Netz und Soziale Medien in einem kleinen, abgelegenen asiatischen Land bewirken, gibt »Jawline« einen erhellenden und facettenreichen Einblick in den Stand der Dinge in den USA und erzählt dadurch auch, was sich gerade in Europa entwickelt. Die Protagonisten des Films sind alle Meister im Generieren öffentlicher Aufmerksamkeit; die Erfolgreichen unter ihnen finanzieren durch die Clickraten auf ihren Social-Media-Accounts ihren Lebensunterhalt. Und natürlich versuchten diese Influencer mit jeder Bewegung vor der Kamera den Film als Werbe-Tool für ihre Instagram- und TikTok-Accounts zu nutzen. Doch die junge, clevere Regisseurin Liza Mandelup hat diese Showtalente umgekehrt für ihre Inszenierung genutzt: einige Social-Media-Stars und ihren Manager in Los Angeles und als Gegengewicht den gut aussehenden, noch um Anerkennung kämpfenden Start-up-Influencer Austyn irgendwo in Tennessee. Das Ergebnis sind witzige und bittere Geschichten, die Mandelup und ihrem Film beim Sundance-Festival den »U.S. Documentary Special Jury Award for Emerging Filmmaker« einbrachte.
Dass nicht nur junge Leute zu schonungsloser Offenheit bereit sind, zeigt die starke und charmante 70-jährige polnische Lady in »Lessons of Love«. Wie eine – oder als? – Schauspielerin erzählt Jola ihren Freundinnen und der Kamera von den verlorenen Jahrzehnten ihres Lebens an der Seite ihres Ehemanns, den sie nie liebte, der ihr niemals Empathie entgegenbrachte und sie niemals Freude am Sex empfinden ließ. Konsequent beginnt sie nun eine Beziehung mit einem ungefähr gleichaltrigen Mann, der ihre Bedürfnisse zu befriedigen weiß.
Der Film von Malgorzata Goliszewska und Kasia Mateja war einer von mehreren interessanten polnischen Productionen im Internationalen Wettbewerb von »Flahertiana«. Die beiden Regisseurinnen drehten »Lessons of Love« als eine Art inszenierten Dokumentarfilm, bei dem man sich noch mehr als über Jolas Mut über den ihres Lovers wundert, der in ihrer Geschichte nur eine Nebenrolle spielt und sich trotzdem in sehr intimen Situationen filmen lässt.
Eine solche Angst- und Schamlosigkeit zeigt auch »Bitter Love«, der in Perm den Grand Prix für den besten Film des Festivals bekam, den »Big Golden Nanook«. Die schwedisch-finnisch-polnische Dokumentarfilm-Koproduktion eines polnischen Regisseurs, der in Schweden lebt, über eine Wolga-Kreuzfahrt in Russland ist ein Beispiel für das heutige grenzüberschreitende Filmemachen in Europa. Jerzy Sladkowski versammelt ein Ensemble junger bis mittelalter Protagonist*innen mit starken Gefühlen und Wünschen. Die meisten von ihnen sehnen sich nach dem Glück mit einem neuen Partner, den sie auf der Flusskreuzfahrt zu finden hoffen.
Wir verfolgen verblüfft oder fassungslos den intimen Offenbarungen von (unter anderem) zwei einsamen Frauen unterschiedlicher Generationen, einem desillusionierten russischen Barden und einem merkwürdigen Paar, das über Jahre hinweg die gegenseitigen Gefühle nicht klären konnte, trotzdem immer die von beiden ersehnte Heirat im Blick.
Und wir Zuschauer fragen uns: Ist das authentisch? Und: Wie viel davon ist inszeniert? – Wenn der Liedermacher vor der neuen Freundin die Fotos seiner Ex-Ehefrau zerreißt, erleben wir diese Szene wie in einem Spielfilm, entweder mehrmals oder mit zwei Kameras gedreht. Der Filmemacher versicherte dem Auswahlteam, dass alles ohne Inszenierung gedreht worden sei, nur ausgewählt aus einer riesigen Menge an Material. Daraufhin entschied sich »Flahertiana« für die Einstellung: Das Wichtigste ist, wie überzeugend und glaubwürdig der Film und seine Protagonist*innen sind.
Einverstanden. Aber im Gegensatz zur Internationalen Jury fand ich zwei traditionellere »Flahertiana«-Filme und ihre Protagonist*innen überzeugender: In seinem meisterhaft fotografierten und montierten »Merry Christmas, Yiwu« begleitet Mladen Kovacevic Arbeiterinnen und Arbeiter in der chinesischen Stadt Yiwu, wo in 600 Fabriken die Weihnachtsdekoration für die Länder der sogenannten westliche Welt produziert wird. Die respektvolle Distanz und die dokumentarische Haltung des Regisseurs erzeugten bei mir mehr Empathie und Verständnis für diese Menschen als die ultimativen Enthüllungen in »Bitter Love«.
Auf eine ganz andere Art bewegend und berührend ist »Butterfly's Dream«. Streckenweise wie in einer Reportage macht uns Jaroslaw Szmidt mit der kleinen Zuzia bekannt, ein mutiges Mädchen mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Als Beobachter und Freund, wie ein zusätzliches Familienmitglied filmte der polnische Regisseur über Jahre hinweg die dramatischen Ereignisse im Leben der charmanten Zuzia, ihrer Eltern und ihrer Schwester. Gemeinsam kämpfen sie gegen Zuzias lebensbedrohende und schmerzhafte Hautkrankheit. Und zum Glück haben sie dabei Erfolg, sonst wäre der Film kaum auszuhalten gewesen.
Am Ende von »Flahertiana«, nach der farbenprächtigen, zeremoniellen Preisverleihung ohne Publikum, beim virtuellen Get-together mit den sympathischen, engagierten und immer hilfsbereiten Festivalmacher*innen, bei Wodka und Gurkenstücken zu Hause, sind Fernweh und Sehnsucht nach dem knapp 4000 km entfernten Perm nur noch größer geworden. Wohl nicht mehr in diesem Jahr, aber vielleicht schaffe ich doch noch, das »Flahertiana«-Festival endlich mal live zu erleben.
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