50. Internationales Filmfestival Rotterdam
»Pebbles« (2021)
Das 50. Internationale Filmfestival von Rotterdam fand in seinem Jubiläumsjahr unter der neuen Leitung von Vanja Kaludjercic statt. Und natürlich online
Virtuelle Filmfestivals, wie sie dieser Tage gezwungenermaßen immer wieder stattfinden, haben einen entscheidenden Nachteil. Ganz gleich wie gut die technische Qualität des Streams ist und unabhängig davon, wie groß der heimische Bildschirm ist – die immersive Qualität einer Kinovorführung lässt sich allein im Wohn- oder Arbeitszimmer nie rekreieren. Gerade deswegen haben solche Veranstaltungen allerdings auch das Potenzial, die Qualitäten eines Films besonders hervorstechen zu lassen. Wenn es einem Werk gelingt, sich auch ohne die Unterstützung der großen Leinwand mit Bildern einzubrennen, dann ist das eine mehr als beachtliche Leistung.
Von solchen Filmen und Bildern gab es beim 50. International Film Festival Rotterdam erfreulicherweise gleich mehrere. Darunter »Pebbles« von Vinothraj P.S., der am Ende auch von der Jury mit dem Tiger Award, dem Hauptpreis, bedacht wurde. Der tamilische Regisseur folgt darin seinen Protagonisten durch den staubtrockenen Süden Indiens: Ein Vater – Typ: aggressiver Trinker – holt seinen kleinen Sohn aus der Schule, um ihn als Unterpfand einzusetzen, um seine Frau zur Rückkehr zu bewegen.
Nicht die Figuren und ihre Geschichte nimmt Vinothraj P.S. dabei in den Fokus, sondern ihren Weg durch die karge, aber faszinierende Landschaft. Mal geht der Sohn vorneweg, mal der Vater, und ganz nebenbei tut sich zwischen kurzen Dorfszenen und weiten Passagen fernab von Zivilisation unter sengender Sonne ein Bild von ländlicher Armut und daraus erwachsender Aggression auf, das man so gnaden- und aussichtslos nicht oft präsentiert bekommt. Allein das letzte Bild, die minutenlange Einstellung einer alten Frau beim Wasserschöpfen in einem Erdloch, lässt noch lange nach Filmende nicht los.
Andere Bilder, Szenen und Figuren, die sich beim IFFR einprägten, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Gleich der Einstieg etwa in »Feast«, in dem der niederländische Regisseur Tim Leyendekker einen wahren Fall um drei Männer beleuchtet, denen vorgeworfen wurde, bei Sexpartys andere wissentlich mit dem HI-Virus infiziert zu haben. Minutenlang wird da gewissenhaft und emotionslos das gesamte Inventar des Tatorts aufgelistet und vorgeführt, von Injektionsnadeln und Poppers-Fläschchen über Drogen und Dildos bis hin zu Kuschelrock-CD und leeren Chipstüten. Nicht jede der mal poetischen, mal dokumentarischen Vignetten, die Leyendekker folgen lässt, ist genauso doppelbödig, doch die Verstörung, die er seinem Publikum zumutet, bleibt reizvoll.
Konventioneller, aber mindestens so sehenswert kamen andere Höhepunkte des Wettbewerbs daher. Nino Martínez Sosa aus der Dominikanischen Republik erzählt in »Liborio« in Bildern von betörender Schönheit die Geschichte eines Bauern, der Anfang des 20. Jahrhunderts zum Propheten, Rebellen und Sektenführer wird – und damit auch von seiner cineastisch aktuell viel zu wenig präsenten Heimat. Das Langfilmdebüt »Gritt« der norwegischen Regisseurin Itonje Søimer Guttormsen lebt in seiner mal komischen, mal berührenden Auseinandersetzung mit Kunst und Ambitionen, Einsamkeit und permanentem Scheitern nicht zuletzt von Hauptdarstellerin Birgitte Larsen. Und im Schwarz-Weiß-Film »Black Medusa« der tunesischen Brüder Ismaël und Youssef Chebbi zieht eine junge Frau schweigend und mordend durchs nächtliche Tunis, was zum Teil zwar inhaltlich, aber nie stilistisch Wünsche offenlässt.
Gelungen war in Rotterdam auch der außer Konkurrenz laufende Eröffnungsfilm »Riders of Justice«. Anders Thomas Jensen, dänischer Meister des bösen Humors, zeigt darin mit Mads Mikkelsen in der Hauptrolle die Folgen eines Zugunglücks, das vielleicht doch kein Unfall war, wie gewohnt mit einer guten Portion Brutalität und reichlich Sinn fürs Absurde, ohne dass ihm dabei je Provokation oder Schockwille aus den Fugen geraten. Ein großer Spaß, selbst zu Hause im Stream.
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