Hayao Miyazaki: Sanfter Wind und schwere Wetter
Hayao Miyazaki in »Never-Ending Man« (2016). © KSM Anime
Der japanische Animeregisseur Hayao Miyazaki, Mitgründer der Wunderschmiede Studio Ghibli, wird am 5. Januar achtzig Jahre alt. Alexandra Seitz über sein Schaffen und sein Erbe
Der Meister wird achtzig. Hayao Miyazaki, Mitgründer der Wunderschmiede Studio Ghibli, am 5. Januar 1941 in Tokyo geboren und seit einigen Jahren nicht wirklich überzeugend im Ruhestand, feiert Geburtstag.
Von heute aus gesehen ist die westliche Filmwelt ohne die Zaubereien Miyazakis schwer vorstellbar. Dabei ist es so lange nun auch wieder nicht her, dass aus einem Namen, der eher den Eingeweihten in die Kunst des japanischen Zeichentrickfilms (Anime) bekannt war, einer wurde, den alle Cinephilen kennen. 1998 war das, als das zivilisationskritische Märchen-Epos »Prinzessin Mononoke« (Mononoke Hime) außer Konkurrenz im Wettbewerb der Berlinale lief und nicht wenigen der Mund offen stehen blieb. Nicht nur ob der Farbenpracht und des Formenreichtums der traditionell analog hergestellten Oberfläche, sondern mehr noch aufgrund der Tiefgründigkeit der Geschichte. »Prinzessin Mononoke« schien eine Neudefinition des Genres zu fordern; dabei liess sich der Film doch auch an eine (nurmehr schwach erinnerte) europäische Tradition von Animationsfilmen mit durchaus »erwachsenen Themen« anknüpfen. Weniger Neudefinition als Rückbesinnung war also gefragt.
So oder so stellte Miyazakis Arbeit die Befreiung der Kunst der Animation aus jener US-amerikanischen Verkitschung dar, die sich weltweit standardmäßig breit gemacht hatte. Studio Ghibli, 1985 gemeinsam von Miyazaki und seinem Mitstreiter Isao Takahata (1935-2018) gegründet, war angetreten, Zeichentrickfilme/Anime aus dem Rezeptionsghetto »Kinderfilm« herauszuholen, sie vom Zuckerguß zu befreien und zu beweisen, dass anspruchsvolle Unterhaltung in animierter Form für Menschen jeden Alters möglich ist. Dem Disney-Studio – Heimat der Chefideologen und propagandistische Speerspitze eines rührseligen Familienbegriffs plus zugehöriger simplifizierender Weltanschauung – war sofort klar, welche Gefahr da heraufzog. Also schloss der US-amerikanische Branchenriese einen Vertrag mit dem vergleichsweise winzigen japanischen Studio über eine Kooperation beim Vertrieb der Ghibli-Filme im westlichen Ausland; offenbar mit dem Ziel, den Konkurrenten erstmal auf Eis zu legen. Fast drei Jahre lang musste man dann nämlich auf den regulären Kinostart von »Prinzessin Mononoke« warten, nur um Zeugin zu werden, wie der Film mangels geeigneter Werbestrategie an den Kassen wie ein Stein unterging. Die lieblose Behandlung gipfelte darin, dass es der Verleih nicht einmal für nötig befand, die Endcredits des Films aus dem Japanischen zu transkribieren.
Der Animefilm hebt ab
Freilich lässt sich wahres Genie auf Dauer nicht unter dem Deckel halten. Als Miyazaki 2001 sein nächstes Werk vorlegte und »Chihiros Reise ins Zauberland« (Sen to Chihiro no Kamikakushi) nicht nur in Japan alle Zuschauerrekorde gebrochen hatte, in der restlichen asiatischen Welt erfolgreicher war als »Titanic«, bei der Berlinale den Goldenen Bären erhielt (ex aequo mit »Bloody Sunday« von Paul Greengrass, womit die zerstrittene Jury zwei diametral entgegengesetzte ästhetische Positionen kurzerhand zusammenzwang und damit auch die Filmkunst als solche auszeichnete) und schließlich auch noch den Oscar für den besten Animationsfilm gewann – da musste schließlich auch der Disney-Konzern ein wenig Platz machen.
Also wurden die bisherigen Produktionen des Studios Ghibli leichter zugänglich – »Chihiros Reise ins Zauberland« war immerhin bereits der achte Langfilm Miyazakis –, und es ging die Tür zu einem Kosmos auf, der bevölkert ist von eigensinnigen Kreaturen in widersprüchlichen Situationen sowie narrativen Höhenflügen, die sich regelmäßig in wortwörtlichen niederschlagen. Kein Film von Miyazaki kommt ohne Fliegen und Fluggerät aus – wobei die Palette vom pelzigen Katzenbus über den Besen und den gestaltwandelnden Riesenraben bis zum WK-I-Doppeldecker und Kamikaze-Zero-Fighter reicht, vom ganz und gar Erfundenen bis zum ganz und gar Konkreten also; auch Drachen, Papiermännchen und Levitationssteine wurden hier schon gesichtet. Doch ein Ort des paradiesischen Eskapismus ist der Miyazaki'sche Himmel nie. Was damit zusammenhängt, dass er keinen Hort der Harmonie überwölbt.
Die Begeisterung für das Fliegen und für Flugmaschinen aller Art wurde dem Sohn eines Fabrikanten von Flugzeugteilen zwar in die Wiege gelegt, doch darf man dabei nicht vergessen, dass Hayao Miyazaki in Kriegs- und Nachkriegszeiten aufwuchs. Auf Wunsch des Vaters studierte er zunächst Politikwissenschaft und Ökonomie, ging dann aber 1963 zum Studio Toei und lernte das Handwerk der Zeichentrickkunst in unterschiedlichen Funktionen und verschiedenen Produktionskontexten; unter anderem war er als Zeichner an der legendären TV-Serie »Heidi« (ab 1974) beteiligt. Bei Toei lernte Miyazaki auch seinen späteren Kompagnon Takahata kennen – der wiederum 1988 mit »Die letzten Glühwürmchen« (Hotaru no Haka) einen der erschütterndsten Filme über das Leid und Elend von Kindern in Kriegszeiten vorlegte.
Gut und Böse sind wenig praktikable Kategorien
Zunächst aber nahm Studio Ghibli 1986 mit Miyazakis »Das Schloss im Himmel« (Tenku no Shiro Rapyuta) den Betrieb auf. Wie ein regelrechter Actionkracher verknüpft die turbulente Exposition dieses wunderbaren Frühwerks innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Parteien in einem dichten Geflecht aus individueller Motivation und historischer Bedingtheit. Für jede der beteiligten Figuren bedeutet das titelgebende Schloss Laputa etwas anderes: Eine Piratenbande erhofft sich unvorstellbare Schätze; ein General freut sich auf eine neue, geheime Superwaffe; ein undurchschaubarer Beamter hat die Weltherrschaft im Sinn; der Junge Pazu will eigentlich nur seinen Vater rehabilitieren. Und das Mädchen Sheeta, die Erbprinzessin Laputas, begreift zwar nicht recht, wie ihr geschieht, erkennt in ihrer Herkunft aber bald eine große Bürde. Denn »Himmelskönigreich« mag für christlich sozialisierte Ohren verheißungsvoll nach einem paradiesischen Urzustand klingen, in dem Mensch und Tier und Natur in Friede und Harmonie miteinander leben. Wörtlich genommen aber bedeutet es nicht mehr, als dass von einem Ort Oben Macht nach Unten ausgeübt wird. Laputa – die im Himmel schwebende Insel, die idyllischer Garten und tödliche Waffe zugleich ist – »ruled the earth with an empire of fire«.
Wie so oft also ist die Wahrheit wesentlich anders als sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Sie ist komplexer, widersprüchlicher, spannungsgeladen und in ihrer ganzen Uneindeutigkeit schwer auszuhalten. Was wiederum darauf zurückzuführen ist, dass ein rein theoretisches Verständnis des Prinzips von Yin und Yang einen noch lange nicht für Miyazakis filmische Umsetzungen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen präpariert. In seinem Werk gehen die Schönheit und der Schrecken nicht nur Hand in Hand, sondern ist der Schrecken tatsächlich schön und Schönheit oft schrecklich. Und moralische Begriffe wie Gut und Böse werden schnell als akademische, wenig praktikable Kategorien erkennbar, sobald menschliche Leidenschaft ins Spiel kommt und ein Chaos ausbricht, das alte Welten vernichten und neue errichten kann. Grundsätzlich und dabei doch spielerisch erzählt Miyazaki vom Platz des Menschen im Kosmos. Er versucht in seinen Filmen immer vorläufig bleibende Ortsbestimmungen, deren jeweilige ungefähre Koordinaten sich aus der gewaltvollen Kollision von menschlicher Wissbegierde und Hybris mit althergebrachter göttlicher respektive spiritueller Ordnung ergeben.
Den Kindern vertraut er die Rettung an
Neben »Das Schloss im Himmel« handeln in Miyazakis Werk vor allem »Nausicaä aus dem Tal der Winde« (Kaze no Tani no Naushika, 1984) und »Prinzessin Mononoke« vom tödlichen Konflikt zwischen menschlicher Zivilisation und natürlichem Urzustand. Einem Konflikt, der immer Verrohung (des Menschen) und Zerstörung (der Natur und der in ihr beheimateten Götter) beinhaltet und absehbar in Untergang und allgemeine Vernichtung führt. Einerseits. Andererseits bergen das Meer der Fäulnis und der Wald des Todes (in »Nausicaä…«) die Kräfte zur Selbstheilung der Erde, ist die Eisenschmelze der Herrin Eboshi (in »Prinzessin Mononoke«) ein Mittel zur Selbstermächtigung der Schwachen.
Das hauptsächliche Interesse des Regisseurs gilt dabei der Gestaltung der Dynamik des Konfliktfeldes, und dort wiederum der sorgfältigen Klärung der Zusammenhänge. Miyazaki ist ein atemberaubender Erfinder von fantastischen Lebensformen und surrealen Welten, naiv ist er nicht. Die schiere Vieldeutigkeit der beteiligten Faktoren, für die die Bauwerk gewordene Janusköpfigkeit Laputas als Symbol gelten kann, macht eine Entscheidung für oder gegen die menschliche Zivilisation als grundsätzlich von Übel alles andere als leicht. (Was, nebenbei bemerkt, ein Grund sein mag für die mitunter außerordentlich abrupt ausfallenden Auflösungen von Miyazakis Geschichten; erinnert sei hier an die allgemeine Erlösungs-Entzauberung, mit der »Das wandelnde Schloss« (Hauru no Ugoku Shiro, 2004) unter größter Gefahr des Auseinanderfliegens der gesamten Chose von Formel-1-Geschwindigkeit auf Quasi-Stillstand vollbremst und sich mit Ach und Krach über die Ziellinie ins Happy End rettet.)
Sowohl Nausicaäs Bemühen um ein friedliches Zusammenleben mit den die Erde beherrschenden Rieseninsekten wie Eboshis Versuch, den Gott des Waldes zu töten, sind Schritte auf einem evolutionären Weg. Jedoch in je unterschiedliche Richtungen. Während das Mädchen Nausicaä um die Notwendigkeit weiß, »das zerrissene Band zwischen der Schöpfung und allen Kreaturen neu zu knüpfen«, meint die erwachsene Eboshi, in den göttlichen Waldtieren einen Aberglauben zu bekämpfen, der die Menschen knechtet. Was sich hier spiegelt, ist Machtgier und Gewalt als Ausdruck einer tiefen Angst vor Kontrollverlust. Der im technologischen Fortschritt rücksichtslos realisierte Machbarkeitswahn ist nicht mehr als die schlecht verhüllte Panik, die das erkennende Subjekt ergreift, wenn es sich allein in der Welt wähnt, der Willkür Gottes scheinbar ausgesetzt. Wieviel sicherer und wie verführerisch erscheint es da, Gott zu töten, das Irrationale zu bannen und alles, was kreucht und fleucht, zu unterwerfen.
Es sind die Kinder, die das Vage aushalten, die das Vertrauen in die Transzendenz noch nicht verloren haben und die daher dem göttlichen Funken am nächsten stehen. Ihnen vertraut Miyazaki die Rettung der Welt an. Nachdem sich der Rauch der apokalyptischen Feuer verzogen, das Beben der Erde sich gelegt hat und eine neue Ordnung geboren ist, bietet sich zumindest die Erkenntnis, dass ein behutsames Miteinander, in dem die Wesen einander Trost spenden, immerhin noch möglich ist. In den komplexen Charakteren, die als Geister, Götter und Zauberer, niedliche Wuschelwesen oder ganz normale Menschen Miyazakis gezeichnetes Universum bevölkern, findet diese auf Ausgleich und Respekt bedachte Haltung ihren Widerhall.
Und was kommt jetzt?
Im September 2013 kündigte Hayao Miyazaki, 73-jährig, seinen Rückzug aus dem Studio Ghibli respektive in den Ruhestand an. Zugleich legte er mit »Wie der Wind sich hebt« (Kaze tachinu) ein ebenso tiefgründiges wie hochfliegendes Altmeisterwerk vor, das sich seinem erklärten Lieblingsfilm »Porco Rosso« (Kurenai no Buta, 1992) beigesellen lässt, der von einen schweinsköpfigen Flieger-Veteranen des Ersten Weltkriegs handelt. »Wie der Wind sich hebt« erzählt drei Dekaden aus dem Leben des Flugzeugkonstrukteurs Jiro Horikoshi, der in die Geschichte eingegangen ist als Designer der Misubishi A6M, auch bekannt als Zero: jenes Flugzeug, mit dem die japanischen Luftstreitkräfte im Zweiten Weltkrieg zunächst enorme Verheerungen anrichteten und schließlich ihre Kamikaze-Angriffe durchführten; Kamikaze bedeutet göttlicher Wind. Und einmal mehr gelang Miyazaki die Darstellung eines komplexen Charakters in komplexer Verflechtung mit einer komplexen Welt. Einmal mehr gelang das bewundernswerte Kunststück, Verständnis zu wecken für die Existenz des Schrecklichen als Teil des Großen Ganzen. Einmal mehr auch stellte sich die Frage nach dem Begriff der Schuld jenseits des Ideologischen.
Bei Ghibli stellten sich derweil ganz andere Fragen: Mit dem Weggang des Meisters erhob sich ein Gebrodel in der Gerüchteküche – sogar die Auflösung des Studios schien mit einem Male denkbar –, in dessen Dunstschwaden jedoch alsbald ein vertrauter Schemen erkennbar wurde. Im Oktober 2017 schließlich wurde offiziell bestätigt, dass Miyazaki die Finger vom Zeichenstift nicht lassen kann und an einem weiteren Film arbeitet, »How Do You Live?« (Kimitachi wa do ikiru ka), der Adaption eines Jugendromans von Genzaburo Yoshino; der derzeitige Produktionsstatus ist ungewiss.
Die gleichermaßen ungeklärte Nachfolge steht freilich seit Längerem schon im Raum. Nachfolge nicht im Sinne einer Übernahme der Funktion des Studiochefs als vielmehr des Erben eines filmkünstlerischen Auftrags, der perfekt beherrschtes, analoges Handwerk mit anspruchsvollen Inhalten vereint. Hohe Erwartungen, die zunächst arg schwer auf den Schultern von Goro Miyazaki lasteten, einem der beiden Söhne, die Miyazaki mit der Animatorin Akemi Ota hat, mit der er seit 1965 verheiratet ist. In der reichen Palette und dem Detailreichtum von Goros Werk lässt sich die familiale Abkunft durchaus erkennen, doch geht der Sohn – der mit (dem fürs Fernsehen produzierten) »Earwig and the Witch« (Aya to majo) vergangenes Jahr für den ersten computeranimierten Film von Ghibli verantwortlich zeichnete – auch seine eigenen Wege.
Ohnehin ist mittlerweile klar, dass nicht einer allein die großen Fußstapfen des kleinen Mannes dereinst ausfüllen wird. Es sind mehrere, die in den vergangenen Jahren mit ebenso farbenfrohen wie erzählfreudigen, fantasievollen wie gedankenreichen Animes auf sich aufmerksam machten: Hiromasa Yonebayashi, der zuletzt mit »Erinnerungen an Marnie« (Omoide no Mani, 2014) für Aufsehen sorgte. Mamoru Hosoda, dessen »Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft« (Mirai no Mirai, 2018) eine Oscarnominierung erhielt. Makoto Shinkai, der mit »Your Name« (Kimi no Na wa, 2016) und »Weathering With You« (Tenki no Ko, 2019) Hits landete.
Und eigentlich lässt sich doch Schöneres gar nicht wünschen, als der verehrte Ahn einer mit Respekt und Liebe gepflegten Tradition zu sein. In diesem Sinne: Alles Gute und many happy returns, Miyazaki-san!
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