Streaming-Tipp: »Spuk in Bly Manor«
»Spuk in Bly Manor« (Miniserie, 2020). © Eike Schroter / Netflix
Die Frau hat ihr Gesicht verloren. Nicht im Sinne der geläufigen Redewendung, sondern buchstäblich. Wie bei einer schlecht modellierten Schaufensterpuppe sind ihre Züge nur noch maskenhaft zu erkennen. Beim Blick in den Spiegel weiß sie nicht mehr, wer sie selbst ist. Aber sie hat noch etwas Wichtiges zu erledigen. Und so wandelt die Frau ohne Antlitz als Geist auf dem britischen Herrenhaus herum wie eine Erinnerung ohne Kompass.
Mit dieser originellen Interpretation des Gespenstermotivs setzt die Netflixserie »Spuk in Bly Manor« im Subgenre des Haunted-House-Horrors neue Akzente. Nach dem Überraschungserfolg von »Spuk in Hill House«, einer Adaption von Shirley Jacksons gleichnamigem Roman, ließ Mike Flanagan sich für die lose Fortsetzung nun von Henry James' berühmter Schauergeschichte »The Turn of the Screw« aus dem Jahr 1898 inspirieren.
Die modernisierte, in die 80er Jahre verlegte Schauergeschichte kreist um die junge amerikanische Lehrerin Dani (Victoria Predetti). Bevor sie ihrem Bräutigam erklären kann, warum sie von einer Heirat Abstand nehmen will – sie mag nämlich eher Frauen –, wird der Verlobte von einem Lastwagen überrollt. Vom schlechten Gewissen gepeinigt nimmt Dani einen Job auf einem abgelegenen englischen Landgut an, wo sie sich um zwei verwaiste, seltsam erwachsen wirkende Kinder kümmert.
Ihre Gefühle zu der ruppigen Gärtnerin Jamie (Amalie Eve) werden buchstäblich überschattet von Geistererscheinungen. Nach und nach erst stellt sich heraus, womit dieser Spuk zusammenhängt. Eine Rückblende erzählt von zwei Schwestern, die im 17. Jahrhundert einen Plan aushecken mussten, um ihren Besitz zu erhalten, der im Fall ihrer Vermählung per Gesetz an den angeheirateten Gatten übergehen würde. Dieser emanzipatorische Akt nimmt jedoch eine tragische Wendung. Wieder und wieder kehrt eine der beiden Schwestern als gesichtslose Wasserleiche nach Bly Manor zurück.
Mit einer verblüffenden Wendung deutet die Serie an, wie sich das Schicksal der Schwestern in der Liebesgeschichte zwischen Denis und Jamie wiederholt, und greift damit auch jenes Kernmotiv auf, das seit Erscheinen von »The Turn of the Screw« häufig diskutiert wurde: das Motiv des »unzuverlässigen Erzählers«.
Wenn etwa die beiden Kinder, um die Dani sich kümmert, in den Erinnerungen von Geistern gefangen sind, dann wird die Grenze zwischen Halluzination und Wirklichkeit fließend. Jenen Ariadnefaden, der ihn aus diesem erzählerischen Labyrinth herausführt, findet der Betrachter (sofern er genau hinsieht) erst ganz zum Schluss. Der klischeehafte Haunted-House-Terror mit knarrenden Dielen und kopflosen Gespenstern weicht in dieser Serie einer stilvollen Gothictragödie, die ihre zahlreichen interessanten Figuren psychologisch tiefenscharf durchschattiert.
Trailer
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