Visions du Réel: Der Weg zurück
»Punta Sacra« (2020)
Auch das Filmfestival Nyon, eines der wichtigsten Dokumentarfilmfestivals der Welt, fand dieses Jahr online statt
1960 wurden die »Visions du Reél« von dem späteren langjährigen Berlinale-Chef Moritz de Hadeln im schweizerischen Nyon gegründet. Heute ist das Dokumentarfilm-Festval sicherlich auch wegen der reizvollen Lage am Genfer See ein für Branche und -Liebhaber attraktives Treffen. Doch für die vom 24. April bis 2. Mai programmierte diesjährige Ausgabe mussten die Gäste auf Seepromenade und Mont-Blanc-Blick verzichten. Denn nach dem Verbot von Großveranstaltungen auch in der Schweiz entschied sich auch das Festivalteam um die künstlerische Leiterin Emilie Bujès – die vor Beginn ihrer Amtszeit 2017 vermehrte Aufmerksamkeit für Virtual-Reality-Formen angekündigt hatte – statt einer Absage für den Online-Auftritt großer Teile der Veranstaltung.
So wurden die Filme der diversen Wettbewerbe und Informationsreihen im Internet gestreamt, Gesprächs-Foren und Industrie-Meetings waren als Videokonferenzen zu sehen, darunter auch Masterclasses mit Claire Denis, der brasilianischen Dokumentaristin Petra Costa und dem schweizerisch-kanadischen Naturfilmer Peter Mettler. Ein enormer organisatorischer, technischer und auch rechtlicher Aufwand, der nur mit hochspezialisierter Unterstützung gestemmt werden konnte und – jedenfalls von außen betrachtet – erstaunlich reibungslos klappte. Nur die Idee, durch die künstliche Begrenzung des Zugangs zu den Filmen auf jeweils 500 virtuelle Sichtungsplätze digitales Gedränge und Festival-Atmosphäre zu schaffen, schuf unnötigen Stress. Doch es ist auch verständlich, dass die Rechteinhaber der Filme ihre Schätze nicht mit übermäßig viel Öffentlichkeit »verbrennen« wollen. Schließlich besteht bisher Hoffnung, sie später doch noch ins Kino zu bringen.
In Sujet und Sichtweise wie maßgeschneidert zur aktuellen Weltkonstellation aus notwendiger Distanz, Sicherheitsdenken und Überwachung kommt der neue Film des Schweizer Filmemachers Thomas Imbach. Dabei knüpft »Nemesis« an Imbachs neun Jahre alte Arbeit »Day is Done« an, die Tonschnipsel eines Anrufbeantworters mit der beeindruckenden Totale aus Imbachs Atelierfenster über den benachbarten Güterbahnhof in den Züricher Himmel verknüpfte. Jetzt sehen wir von dort den Abriss dieses Bahnhofs, und nach einer langen Zwischennutzungsperiode den Bau eines modernen Hochsicherheits-Knasts auf dem Gelände.
Dazwischen viel Stillstand. Und eingesprochene Zitate aus Berichten von Abschiebe-Häftlingen in Schweizer Gefängnissen. Sechseinhalb Jahre hat Imbach gedreht, lange auch muss das Team an der Montage mit den unterschiedlichsten Einstellungsgrößen, Zeitraffern und ausgetüfteltem Sounddesign gearbeitet haben, um aus dem voyeuristischen Blick auf das Terrain und in den Himmel darüber beeindruckend vielschichtige Reflexionsebenen zu entwickeln. Dabei kommen hin- und her sausende Maschinen, mysteriös agierendes Sichtungspersonal und Arbeiter, die in Karawanen unsichtbare Gebäude betreten und verlassen, oft mit einer cartoonesken Komik daher, die an die scharf gestochenen Tableaus von Jaques Tati erinnert.
Imbach hatte auf 35 mm gedreht. Herrlich verwaschen dagegen die Optik in »Unusual Summer« des in Berlin lebenden Filmemachers Kamal Aljafari, der die im Nachlass gefundenen Bilder aus der Überwachungskamera seines Vaters auf den kleinen Privat-Parkplatz vor dessen Haus im israelischen Ramla mit eingeblendeten Wort-Sentenzen, Interferenzen und Rhythmisierungen poetisiert: »Life must be disrupted before it can be revealed«. Sein Film zeigt aber auch deutlich, dass die Skepsis gegenüber dem Sichten von Filmen auf dem heimischen Screen ihre Berechtigung hat, denn besonders bei manchen sehr lichtarmen Einstellungen können wir die ästhetischen Intentionen nur ahnen.
Beeindruckend auch »The Silhouettes« der iranischen Regisseurin Afsaneh Salari, die hier ebenso formal zurückgenommen wie dicht von einer Familie erzählt, die schon vor dreißig Jahre aus Afghanistan nach Teheran emigriert war, dort aber bisher nicht angekommen ist. Das liegt an den Abstoßungen der Fremdem wenig zugeneigten iranischen Gesellschaft, aber auch an dem unerhörten Wunsch der zweiten jungen Generation von Einwanderern nach gesellschaftlicher Teilnahme, die dazu führt, dass ein junger Mann sich auf den Weg nach Afghanistan zurück macht. Ein Film, der auf unaufdringliche Weise den Blick auf die Welt jenseits unserer engen Befindlichkeiten richtet und hoffentlich in Nach-Corona-Zeiten noch ein großes Publikum finden wird. Bei der virtuellen Preisverleihung erhielt Salari dafür eine lobender Erwähnung.
Das Festival in Nyon ist stolz, dass 45 % der gezeigten Filme von Filmemacherinnen kommen, davon allerdings nur fünf der vierzehn Filme im Langfilm-Wettbewerb. Umso erfreulicher, dass von denen gleich drei Auszeichnungen erhielten, darunter auch Hauptpreisträgerin Francesca Mazzoleni. Die junge italienische Regisseurin besucht in »Punta Sacra« einen Ort, der in seiner mehrfach prekären Lage prägnante Metapher für die drohende Zerstörung traditioneller Gemeinschaften an vielen Orten der Erde ist, die viele Dokumentarfilme derzeit beschäftigt. Idroscalo ist eine flache wellenumtoste Halbinsel zwischen tyrrhenischem Meer und Tibermündung, die mit einer Art römischer Favela bebaut ist. Hier leben Menschen am Rande der italienischen Gesellschaft in einem kommunitären – aber keineswegs streitlosen – matriarchal geprägtem Freiraum, der von Mazzoleni, Kameramann Emanuele Pasquet und Komponist Lorenze Tomio als lyrisch flirrendes Gesamtkunstwerk in Szene gesetzt wird. Vor einigen Jahren schon wurde die erste Hälfte des Geländes für einen Yachthafen geräumt.
Ein ganz besonderes Ereignis kann leider erst in Zukunft besichtigt werden, dann aber ganz im analogen Hier und Jetzt. Denn Festivalleiterin Emilie Bujès ist es gelungen, den zurückgezogen im Nachbarstädtchen Rolle lebenden cineastischen Großmeister Jean-Luc Godard zur Zusammenarbeit für eine Ausstellung zu gewinnen: »Signes, passions – à propos du livre d'image« unternimmt unter seiner eigenen Regie den Versuch, die sechs Kapitel von Godards letzten Film »The Image Book« visuell und audititiv in neue installative Formen zu übersetzen. Ob und wie das gelungen ist, wird sich sehen lassen, wenn das schöne Château de Nyon am 12. Juni (hoffentlich) wieder seine Pforten für das Publikum öffnet.
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