Kritik zu Feuchtgebiete
David Wnendt, der 2011 mit seinem Film »Kriegerin« von sich reden machte, wendet sich erneut einer vielbesprochenen Frauenfigur unserer Zeit zu: Charlotte Roches hygienetabubrechender Heldin
Helen Memel (Carla Juri) fegt zu punkiger Musik auf dem Skateboard durch U-Bahnhöfe und Großstadtstraßen. Das Brett, das sonst pudelbemützten Jungs als Fahr- und Flugzeug dient, verschafft dem Teenie mit dem wilden Lockenschopf Beinfreiheit für den permanenten Trip.
David Wnendts Verfilmung von Charlotte Roches Roman »Feuchtgebiete« stürzt sich in temporeiche Bilder, abrupte Schnitte, Flashbacks und comichafte Animationen. Rockmusik und Opernzitate geben einen Sound vor, der sinnlich verdeutlicht, dass Ankommen für das ungestüme Girl kein Thema ist – es sei denn, Helens trotziger Wunsch, ihre geschiedenen Eltern wiederzuvereinigen, wäre damit erfüllt. Hier ist ein anarchisches Wesen, ein verwöhnt-vernachlässigter Teenager mit sich selbst beschäftigt. Die Schule ist zum Weglaufen, die beste Freundin fast ein Besitz, namenlose Jungs verhelfen zum schnellen Sex. Mit dem Board pendelt Helen rastlos hin und her zwischen ihrer depressiven Mutter (Meret Becker) und ihrem zwangsjugendlichen Vater (Axel Milberg). Kinder, resümiert die 18-Jährige, lieben ihre Eltern bedingungslos, sind sie auch noch so gestört.
Die Schweizer Schauspielerin Carla Juri, zehn Jahre älter als ihre Filmfigur und eine klassische Schönheit von androgyner Ausstrahlung, macht es einem leicht, ihr in Helens Absturz und Rettung zu folgen. Sie spielt ein provozierendes Punkmädchen, eine scharfsinnige Beobachterin ihrer Umwelt, nicht zuletzt eine unbotmäßige Patientin, die selbst Weißkittel wie Chefarzt Dr. Notz (Edgar Selge in einer hinreißenden Parodie) aus der Fassung bringen kann – dies alles nuancenreich, schwebend, unantastbar.
Charlotte Roches Romanvorlage wurde 2008 als feuchter Albtraum und Suada der kalkulierten Tabubrüche zum Bestseller. Die junge Protagonistin macht darin viel Aufhebens um ihr Dilemma, bei der modischen Rasur im Schambereich ihre aller Welt verheimlichten Hämorrhoiden verletzt zu haben. Problemzone Po: Sexuell besetzte Scham ist einem Typ wie Helen fremd, peinlich verbirgt sie aber die dysfunktionalen Krampfadern, bis eine schmerzhafte Fissur sie ins Krankenhaus zwingt. Was bei der gymnastischen Kosmetikprozedur entstand, zeigt sie den Proktologen im Krankenhaus mit fröhlichem Exhibitionismus. Schlimm wäre nur die postoperativ drohende Analinkontinenz, weshalb sie überlegt, dem »nicht vorhandenen Gott« bei Verschonung ihre Hobbys »Ficken und Avocado Bäumchen züchten« zum Opfer zu bringen.
Helen sucht anfangs eine öffentliche Toilette voll Abwasser auf und proklamiert, dass Hygiene bei ihr kleingeschrieben sei. Früh schon zum Kloputzen gedrillt, trotzt der Teenager der mütterlichen Sauberkeit und Weltabwehr und setzt sich mit Aplomb auf die verschmierte Klobrille. Im ganzen Film regiert das Lustprinzip, in glitschigen Pizzabelägen oder in eigenen und anderen Unterleibszonen zu fingern. Aber die von der Mutter angedrohten Infektionen holt sich Helen nicht.
Der Roman »Feuchtgebiete« bietet reichlich Stoff für Voyeurismus, Schadenfreude, Fremdschämen und amüsiertes Gelächter. Kokett kratzt Charlotte Roche an der Oberfläche unaufgelöster Ambivalenzen. Die kindische Distanzlosigkeit ihrer Protagonistin gibt z. B. durchaus stimmig den herrschenden Hygienewahn dem Gelächter preis. Helens Geschichte macht sich auch über die pornoaffine Freiheit lustig, mit der entschieden werden muss, welche Körperzonen in welchem Zustand für wen als sexy gelten. Wie bemerkt Helen ganz richtig? »Wenn man Schwänze, Sperma und andere Körperflüssigkeiten ekelhaft findet, kann man es mit dem Sex auch direkt bleiben lassen.«
Den Wortschwall des Romans haben David Wnendt und sein Koautor Claus Falkenberg in eine straffe Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte, Krankenhauskomödie und Zeitgeistsatire übersetzt. Die Protagonistin surft furchtlos ins Geschehen, hält der Erwachsenenwelt den Spiegel vor und bliebe doch ein verletzbarer weiblicher Narziss, würde sie im Krankenhaus nicht Robin (Christoph Letkowski), einem freundlichen, nicht begriffsstutzigen »partner in crime« begegnen. Von dem Traum, die Eltern an ihrem Krankenbett wieder zu vereinen, kann Helen am Ende mit ihm ablassen.
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