Stefano Sollima: Angst über der Stadt
Kameramann Dariusz Wolski (Mitte, links) und Regisseur Stefano Sollima (Mitte, rechts) am Set von »Sicario 2« (2017). © Studiocanal
Mit seinen ebenso drastischen wie klugen Gangster- und Polizeikrimis hat Stefano Sollima sich in Italien etabliert. Jetzt kommt mit »Sicario 2« sein erster amerikanischer Film ins Kino.
Es ist 9.25 Uhr in Rom. Ein Drogendealer und Kleinkrimineller läuft aufgeregt zu einer Telefonzelle. Nach zwei Anrufen hat sich seine Anspannung noch gesteigert. Voller Unruhe verlässt er die Zelle und macht sich auf den Weg zu einem Treffen. Jetzt ist es 9.30 Uhr. In Modena kommt Commissario Scialoja vor dem Revier an. Als er aus dem Auto steigt, fällt ihm ein dunkelhaariger junger Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf. Auf dem Weg ins Revier dreht er sich mehrmals um und sieht, wie der Mann von einem Wagen abgeholt wird. Der Fahrer ist kaum zu erkennen. Nur sein Anzug und sein Schnurrbart fallen auf.
Wieder in Rom. Der nervöse Dealer bleibt in einem dunklen, überdachten und von Sperrmüll übersäten Durchgang stehen und versucht, sich eine Zigarette anzuzünden. Ein Mann kommt hinzu. Der Kleinkriminelle scheint erleichtert. Das für ihn so wichtige Treffen klappt. Doch dann hebt der andere seinen Arm und feuert dreimal auf den Dealer. Noch einmal wechselt die Szenerie. Der junge Mann aus Modena steigt aus einem anderen Auto und trifft jemanden auf einem Feldweg. Auf seine lakonische Frage »Das Paket?« antwortet der Wartende: »Ist schon am Ziel.« Daraufhin zieht der junge Mann eine Pistole und will auf den anderen schießen. Doch die Waffe versagt. Der andere läuft los, versucht zu fliehen. Aber er hat keine Chance. Der erste Schuss trifft ihn in den Rücken. Mit dem zweiten wird er getötet. Als der Schütze zu seinem Wagen zurückkehrt, ist eine laute Explosion zu hören. In der Ferne erhebt sich eine Rauchwolke über Bologna. Mittlerweile ist es 10.25 Uhr an diesem Morgen des 2. August 1980.
So beginnt die elfte Episode der ersten Staffel der italienischen Fernsehserie »Romanzo Criminale – Der Pate von Rom«. In gut drei Minuten, die von dem OMD-Song »Enola Gay« begleitet werden, spannt Regisseur Stefano Sollima ein ungeheuer weites Netz. Typische Genreelemente wie die Ermordung eines Kleinkriminellen werden mit zunächst eher indirekten Verweisen auf eines der blutigsten und tragischsten Ereignisse der italienischen Nachkriegsgeschichte verschnitten. Bei dem Anschlag auf den Bahnhof von Bologna sind am 2. August 1980 85 Menschen gestorben. Die Opfer dieses Attentats neofaschistischer Terroristen, in das auch der italienische Geheimdienst verstrickt war, sind fortan Teil einer klassischen Krimierzählung vom Aufstieg und späteren Fall einer skrupellosen Verbrecherbande.
Vordergründig bedienen die beiden Staffeln von »Romanzo Criminale« gängige Muster und Konventionen. Einige Kleinkriminelle schließen sich 1977 zu einer größeren Bande zusammen, um den Drogenhandel in Rom unter ihre Kontrolle zu bringen. Der »Banda della Magliana« gelingt, woran zuvor die sizilianische Mafia und die neapolitanische Camorra gescheitert sind. Ihre Mitglieder reißen die Macht in der römischen Unterwelt an sich und etablieren Strukturen des organisierten Verbrechens. Die komplett von Stefano Sollima inszenierte Serie zeichnet in 22 Folgen die Geschichte der »Banda« von ihrem ersten großen Coup, der Entführung des Barons Rossellini, bis hin zur ihrer weitgehenden Zerschlagung im Winter 1989/90 nach.
In Wirklichkeit geht es Sollima hier allerdings, wie auch in all seinen anderen Regiearbeiten, um weit mehr als nur um das Offensichtliche. In einem fast 20 Stunden langen Film, zu dem sich die einzelnen Episoden zusammenfügen, breitet er eine Chronik der bleiernen Jahre Italiens aus. Die Entführung und Ermordung Aldo Moros kommen dabei ebenso zur Sprache wie der in London verübte Mord an Roberto Calvi, dem »Bankier Gottes«. Nebenbei erzählt »Romanzo Criminale« vom verlogenen Schweigen, mit dem die italienische Gesellschaft in den 1980er Jahren auf das Sterben an den Folgen von Aids reagierte, und von den Auswirkungen des Mauerfalls im November 1989. Die Krimihandlung gleicht einem Mikroskop. Unter ihm werden die politischen und sozialen Verwerfungen eines Landes, dessen demokratisches System nach und nach erodiert, in einer Schärfe sichtbar, die keinerlei Beschönigung mehr zulässt. Die Bande beginnt als politisches Experiment. Den autoritären Strukturen der anderen Verbrecherorganisationen setzten die Gründer und Köpfe der »Banda della Magliana«, der »Libanese«, Dandi und Freddo, ein demokratisches System der Mitbestimmung entgegen. Es gibt keinen Boss, jeder bekommt den gleichen Anteil, und alle bestimmen gemeinsam. Nur bleibt es nicht dabei. Der »Libanese« krönt sich zum König von Rom, und auch die anderen erliegen den Verlockungen ihres Erfolgs. Das demokratische Prinzip kann dem Machtstreben des Einzelnen auf Dauer nichts entgegensetzen, zumal in Sollimas Italien selbst die größten Gangsterbosse nur Marionetten eines Geheimdienstchefs sind, der sich selbst als bescheidenen Diener des Staates bezeichnet. Dabei hat er mit all seinen Informationen und Intrigen den Staat längst ausgehöhlt.
Bevor Stefano Sollima 2008 zum Auteur der Serie »Romanzo Criminale« wurde, hatte er einige Kurzfilme gedreht, mit »Ho sposato un calciatore« eine Miniserie über das Leben von Fußballspieler-Ehefrauen realisiert und als klassischer Auftragsregisseur einzelne Episoden langlebiger Fernsehformate wie der neapolitanischen Seifenoper »Un posto al sole« oder der Polizeiserie »La squadra« inszeniert. Aber erst mit der Adaption von Giancarlo de Cataldos gleichnamigem Roman konnte der 1966 in Rom geborene Sohn des Filmemachers Sergio Sollima seinem Schaffen eine klare Richtung geben und zugleich seinen einzigartigen Stil entwickeln. In seinem Werk lösen sich die Grenzen zwischen Kino und Fernsehen tatsächlich auf. Die Folgen von »Romanzo Criminale« finden ihre Fortsetzung in dem apokalyptischen Thriller »Suburra«. Und sein 2012 entstandenes Spielfilmdebüt »A.C.A.B. – All Cops Are Bastards« nimmt schon die kalte, jegliche Identifikation untergrabende Erzählhaltung vorweg, die so prägend ist für die unter seiner künstlerischen Leitung entstandenen ersten beiden Staffeln von »Gomorrha – Die Serie«. Die Episoden und die Filme bilden eine große Einheit, wobei sich die jeweilige Form aus der erzählten Geschichte ergibt. Manches lässt sich perfekt auf Spielfilmlänge verdichten, anderes braucht den langen Atem einer Serie, die mehr ins Detail gehen kann.
Sucht man nach Wurzeln von Stefano Sollimas Arbeiten, landet man schnell bei dem Subgenre der Poliziotteschi und damit auch bei seinem Vater Sergio Sollima, der mit »Brutale Stadt« (1970) und »Die perfekte Erpressung« (1973) dieser italienischen Spielart des Polizei- und Gangsterfilms seinen Stempel aufgedrückt hat. Die Poliziotteschi waren wie die Spaghettiwestern der 1960er und -70er eine Reaktion auf US-amerikanische Genreproduktionen. Auf der einen Seite haben Regisseure wie Fernando Di Leo, Duccio Tessari, Carlo Lizzani und Damiano Damiani deutlich auf Exploitation-Elemente gesetzt und die Gewaltschraube noch ein ganzes Stück weiter als ihre amerikanischen Vorbilder gedreht. Auf der anderen Seite waren ihre Filme allerdings auch weitaus stärker von den politischen Entwicklungen der 1960er und -70er Jahre geprägt. Ihre Porträts von Polizisten, die jede Grenze des Rechts überschreiten, und von Gangstern, deren Taten ihr Gerede von Ehre regelrecht verhöhnen, spiegelten die Zerrissenheit der italienischen Gesellschaft und zeigten die Gewalteruptionen des Terrors von rechts wie von links. In der teils schon nihilistischen Schwärze der Filme offenbarten sich die düsteren Wahrheiten jener Zeit. Während viele Italowestern wie die sogenannte »Cuchillo-Trilogie« von Sergio Sollima (»Der Gehetzte der Sierra Madre«, »Von Angesicht zu Angesicht« und »Lauf um dein Leben«) von linken und anarchistischen Ideen erfüllt waren, bildeten die Poliziotteschi die zunehmende Desillusionierung ihrer Schöpfer ab. Die Hoffnung auf eine andere Gesellschaft war einer gewaltigen Wut über die desolaten Verhältnisse in Italien und der westlichen Welt gewichen.
»Romanzo Criminale« und »Gomorrha«, »A.C.A.B.« und Suburra schreiben die Tradition der Poliziotteschi fort, die in den frühen 1980er Jahren im Zuge des Niedergangs des italienischen Genrekinos an ihr vorläufiges Ende gekommen war. Mit seiner Chronik der »Banda della Magliani« schließt Stefano Sollima auch ästhetisch an seine Vorbilder an. Der Look der Serie erinnert ganz deutlich an den der alten Filme. Seine späteren Regiearbeiten entwickeln den Poliziotteschi-Stil dann für die heutige Zeit weiter. Allerdings weicht der Zorn der früheren Polizei- und Gangsterfilme bei ihm einem viel kälteren und analytischeren Blick auf die Verhältnisse. Während in »Romanzo Criminale« den Gangstern mit Commissario Scialoja und seinem Partner Inspector Canton noch echte Protagonisten gegenüberstehen, bleibt die Polizei in Gomorrha eine gesichtslose, anonyme Kraft, die gelegentlich zwar noch das eine oder andere Camorra-Mitglied verhaften kann, aber ansonsten eine Statistenrolle spielt.
In »Suburra«, der von der Verstrickung des organisierten Verbrechens mit der Politik und dem Vatikan erzählt, tritt die Polizei schließlich gar nicht mehr in Erscheinung. Das Geflecht aus politischen und wirtschaftlichen Interessen ist derart dicht, dass die verschiedenen Gangsterbanden und die korrupten Politiker alles untereinander ausmachen. Die Regierung, die sich am Ende des Films auflöst, hat praktisch nur noch die Funktion, einen gesetzlichen Rahmen für die Unternehmungen der mächtigen Verbrecherorganisationen zu schaffen. So muss der Abgeordnete Malgradi, der durch den Tod einer minderjährigen Prostituierten noch zusätzlich erpressbar wird, der Mafia eine parlamentarische Mehrheit für ein riesiges Projekt in Ostia besorgen. In dem Augenblick, in dem das Projekt gesichert ist, verliert er jede Bedeutung. »7 Tage bis zur Apokalypse«, der deutsche Untertitel von »Suburra«, verweist dabei trotz der sintflutartigen Regenfälle, die das Geschehen begleiten, nicht auf einen Weltuntergang. Sollima beschreibt eher die Apokalypse der Demokratie. Das von einer politischen Krise in die nächste schlitternde Italien ist nur noch dem Namen nach demokratisch. Das kapitalistische System der Profitmaximierung, das weder ethische noch politische Grenzen akzeptiert, hat die Institutionen ausgehöhlt.
Vom immer schneller voranschreitenden Erosionsprozess handelt auch Sollimas erster Kinofilm »A.C.A.B.«, der eine kleine Einheit der römischen Bereitschaftspolizei porträtiert. Die Polizisten, die immer dann zum Einsatz kommen, wenn die sogenannte öffentliche Ordnung durch Streikende oder Hooligans, Hausbesetzer oder illegale Einwanderer bedroht wird, verteidigen in diesem Politthriller nicht mehr das Recht der Menschen, sondern nur die Rechte des Kapitals. Ohne auch nur für einen Moment plump zu agitieren, zeichnet der Film das Bild eines perfekten Unterdrückungssystems. Die Polizisten, die in der ersten Szene des Films einen Streik gewaltsam auflösen und später die Räumung einer besetzten Hochhaussiedlung vorantreiben, gehen beständig gegen Menschen vor, deren Situation sie letzten Endes teilen. In einer Nebenhandlung versucht einer der Polizisten, eine neue Wohnung für seine Mutter zu finden, die kurz vor der Zwangsräumung steht. Aber auch er ist machtlos. Und genau diese Machtlosigkeit, aus der sich die Hooligan-Szene ebenso wie die neofaschistischen Bewegungen speisen, gebiert Gewalt. Auf diese Gewalt antworten wiederum die Bereitschaftspolizisten mit noch mehr Gewalt. Der Status quo von Unterdrückung und Zerstörung wird so in alle Ewigkeit aufrechterhalten; die Demokratie zerstört sich selbst.
Nicht zufällig gehörten einige der Protagonisten des Films zu den Polizisten, die 2001 während der G8-Proteste in Genua an der blutigen Erstürmung der Diaz-Schule beteiligt waren. Die Ereignisse von Genua, in deren Verlauf über 60 Globalisierungsgegner teils schwer verletzt wurden, liegen als Schatten über Sollimas Polizei- und Politfilm, der den Korpsgeist der Bereitschaftspolizisten kongenial einfängt und keinen Zweifel daran lässt, dass die Polizisten nichts als das Spiegelbild der Hooligans und Neofaschisten sind, auf die sie in den längst zum Alltag gehörenden Straßenschlachten treffen.
Die bisher veröffentlichten Trailer legen die Vermutung nahe, dass Stefano Sollima seiner kritischen Sicht der Welt auch in »Sicario: Day of the Soldado«, seinem ersten amerikanischen Film, treu bleibt. Die Actionsequenzen wirken zwar deutlich aufwendiger als noch in »Suburra«. Aber die grundsätzliche Haltung und Stimmung der Trailer gleicht der in »A.C.A.B.«. Einmal mehr richtet Sollima seinen Blick auf Männer, die im Namen von Recht und Ordnung hemmungslos Gewalt anwenden. Im mit allen Mitteln geführten Kampf gegen den Terrorismus und die Drogenkartelle zerstört sich die Demokratie selbst.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns