Berlinale-Highlights: Der Filmsupermarkt
»4 Blocks« (2017). © Turner Entertainment Net
Es ist unmöglich, bei der Berlinale alle Filme zu sehen, selbst bei manchen Sektionen ist das schwierig. 400 Filme zeigte die 67. Berlinale im Februar. Unsere Autoren stellen ihre Fundstücke aus den einzelnen Sektionen vor
Die Gangs von Neukölln
Berlinale Special: Die Berliner Gangsterserie »4 Blocks« von Marvin Kren
Spontan mal ein paar Drogendealer auf der Straße in die Enge treiben, ein Auto filzen, eine Wohnung durchsuchen: Sollte man nicht tun, jedenfalls nicht in Neukölln. Einen Moment lang wirken die beiden Polizisten wie Sheriffs, die im wilden Westen von Banditen eingekreist sind, nur dass es nicht die Rocky Mountains sind, sondern ein Betongebirge in Berlin-Neukölln, in dem ihre Einkesselung stattfindet. Der Aufruhr, den die beiden Bullen verursachen, zieht immer mehr Schaulustige an, von oben fallen die ersten Gegenstände herunter, schleichend wandelt sich die passive Feindseligkeit zur aggressiven Lynchmob-Dynamik.
»Ich hatte einen Zeitungsartikel gelesen über einige Straßen in Berlin, in die sich die Polizei nur in größerer Besetzung traut«, erzählt Quirin Berg, der »4 Blocks« für den Pay-TV Sender TNT produziert hat. »Das fand ich bemerkenswert, weil es eine neue Entwicklung ist, die Sicherheitslage sich anscheinend deutlich verändert hatte. Das hat mich als Thema gereizt.« Kaum zehn Minuten braucht die Serie, deren erste zwei Folgen auf der Berlinale vorgestellt wurden, um ihren Schauplatz eindrucksvoll zu etablieren, die vier Häuserblocks um die Neuköllner Sonnenallee herum, über die Ali Hamady als Drogenpate und Schutzgeldeintreiber regiert. Kida Khodr Ramadan spielt den Paten von Neukölln wie eine Weiterentwicklung seines Gebrauchtelektronikladenbesitzers in »Ummah – unter Freunden«. Er verströmt dieselbe unangestrengte, väterliche Autorität, Ruhe und Fürsorglichkeit, unterfüttert sie aber auch mit der schwelenden Gefährlichkeit, die man braucht, um so ein volatiles Kriegsgebiet mit rivalisierenden Clans und nervösen Cops zu kontrollieren. Spannend ist diese Figur auch, weil sie zwischen verschiedenen Lebensentwürfen zerrissen ist, ein Familienvater und Clanchef, der sich nach einer legalen Existenz im Immobiliengeschäft sehnt, zumal er gerade nach 26 Jahren befristetem Aufenthalt unbefristet bleiben darf. Die Situation ist universell und wäre so auch in New York, in Rio oder in der Pariser Banlieue denkbar. Doch für eine deutsche Serie ist es etwas Besonderes, dass sie ihre Mafiageschichte so authentisch in der arabisch-türkischen Szene von Neukölln verwurzelt wie Scorsese seine »Mean Streets« im Little Italy von NY, mit überfüllten Betonburgen, Dönerbuden, Hipsterbars und Striplokalen und allem, was zum arabisch-türkischen Pulsschlag des Problemkiezes dazugehört.
Anke Sterneborg
Der Spatz ist ein Storch
Die Kinder- und Jugendfilmsektion Berlinale Generation Kplus zeigte dieses Jahr drei deutsche Filme
Das hat die hiesige Kinderfilmbranche beglückt. Drei deutsche (Ko-)Produktionen waren im Wettbewerb um den Gläsernen Bären der Berlinale Kinderfilmsektion Generation Kplus. Hat man in den vergangenen Jahren den deutschen Film hier manchmal schmerzlich vermisst oder sich über die ein oder andere Nichteinladung gewundert, ist es nun umso erfreulicher, dass zwei Animationsfilme für die jüngeren Kinder und ein Coming-of-Age-Film für die etwas Größeren Eingang ins Programm gefunden haben. »Die Häschenschule – Jagd nach dem goldenen Ei« von Ute von Münchow-Pohl ist nach dem Kinderbuchklassiker der 20er Jahre entstanden, hat aber nur noch wenig damit zu tun. Ein rasant erzählter Osterhasenfilm, der die Behäbigkeit des Buchs vermeidet und mit einer dazu erfundenen Großstadtstory neue Akzente setzt. Ein Originalstoff ohne Vorlage ist Toby Genkels »Überflieger, kleine Vögel – grosses Geklapper« und eine wunderbare Parabel auf unsere aktuelle multikulturelle Thematik. Spatz Richard wächst bei einer Storchenfamilie auf, und als diese ohne ihn in den Süden fliegt, reist er ihnen mit seinen neuen Freunden Eule und Wellensittich per Schiff hinterher. Es kommt nicht darauf an, wie man aussieht, sondern darauf, wem man sich verbunden fühlt! Erst in Afrika kann Richard akzeptieren, dass er ein Spatz ist, weil er auch ein Storch sein darf.
Lebensbedrohlich ist die Geschichte von Amelie in »Amelie rennt«. Seit sie denken kann, leidet die 13-Jährige an Asthma und muss zur Therapie in die Südtiroler Berge, bevor der nächste Anfall ihr letzter ist. Dort nimmt sie kurz entschlossen Reißaus und besteigt den nächstliegenden Gipfel, was ihr jedoch nur gelingt, da ihr ein jugendlicher Kuhhirte zur Seite steht, der ebenso stur ist wie sie. Eine glaubwürdige Geschichte von Tobias Wiemann, in großartigen Bildern fotografiert.
Katrin Hoffmann
Geisterwelt
Im Panorama: »Honeygiver Among the Dogs« aus Bhutan
Der eifrige junge Polizist ist ja gewarnt worden. Er soll sich bloß nicht verzaubern lassen von der Frau, die er beobachten soll und die den Ruf hat, eine Dämonin zu sein. Lange wirkt die Warnung nicht. Mit einer originellen Genrevariation sorgt die junge Regisseurin Dechen Roder dafür, dass sich Bhutan als Filmland in Erinnerung bringt. Der Film verknüpft wirkungsvoll eine Krimigeschichte um ein Kloster und eine verschwundene Äbtissin mit Ausprägungen buddhistischer Spiritualität, die banale Polizeiarbeit führt in eine Welt archaischer Bilder und Legenden. Einerseits sind die oft diffusen, dunklen Bilder dem Film noir verpflichtet, andererseits suggerieren sie eine mystische Dimension. Unverkennbar ist eine feministische Färbung, denn natürlich gerät der Polizist in den Bann der mysteriösen Choden. Die suggestive Landschaft kommt besonders zur Geltung bei einer langen Wanderung durch einen Wald, der von Zauberkräften beseelt scheint. Der Film gleitet durch eine Reihe von Traumzuständen, bevor sich Intrigen und Gegenintrigen auflösen. Der Regisseurin hält ein reizvoll schwebendes Gleichgewicht von Gegenwart und Tradition, von Realitätssinn und magischem Denken.
Karlheinz Oplustil
Plädoyer fürs Untergründige
Im Forum: »Offene Wunde deutscher Film« von Dominik Graf & Johannes F. Sievert
Nach »Verfluchte Liebe deutscher Film« (2016) nun erneut ein provozierender Film-Essay über die deutsche Tradition im schrillen Genre-Kino. Gefeiert werden einige Mavericks: krude Außenseiter wie Hans H. König mit seinem Grusel-Melo »Rosen blühen auf dem Heidegrab«; radikale Exoten wie Jürgen Goslar mit seinem Afrikafilm »Der flüsternde Tod«; schroffe Eigenbrötler wie Klaus Lemke mit 48 Stunden bis Acapulco; wilde Grenzgänger wie Wolfgang Büld mit »Penetration Angst«; freche, verspielte Straßenfilmer wie Eckart Schmidt mit »Jet-Generation« oder Roger Fritz mit »Mädchen, Mädchen«; schließlich noch einer der neueren Jungen Wilden: Achim Bornhak (= Akiz) mit »Der Nachtmahr«.
Dominik Graf, einer der Regisseure dieses Film-Essays, zählt selbst zu den großen Meistern des Genre-Films hierzulande. Auch seine Filme verbindet die Vorliebe für das Abgründige und Sündhafte, fürs Schroffe und Ungeschliffene. So verwundert sein Bekenntnis nicht, dass er im Kino immer den Schmutz geliebt und das Gefährliche gesucht habe. Graf & Sievert verstehen ihre Suche nach den »wahren Schätzen des Genre-Kinos« jenseits der »netten«, »anständigen«, »formal beflissenen Filme« deshalb als Kampf für ein anderes Kino. Eines, das von Aktionen und Gefühlen, von Blicken und Gesten lebt, jenseits jeder Rederei. Ein billiges, schnelles Kino, das ein tieferes Lebensgefühl für die jeweilige Zeit offenlegt. Und so sichtbar macht, was die Menschen drängt und treibt.
Schon der erste Film-Essay war frech und wild – mit Szenen, die einem anderen Kino-Reich entnommen schienen. Schon da gab es Hinweise auf die Nicht-Oberhausener: auf Roland Klick, Klaus Lemke sowie die älteren Rolf Olsen, Alfred Vohrer. Und schon da schlugen die kluge, souveräne Lisa Gotto und der kundige Olaf Möller die historischen Schneisen für die Filme. In »Offene Wunde deutscher Film« ist einiges wiederholt, anderes durch neue Akzente betont. Wieder kommen viele Beteiligte zu Wort: Autoren, Komponisten, Produzenten, Redakteure, Regisseure. Und alle beklagen, der deutsche Film habe durch seinen Verzicht auf die Tradition der doppelbödigen Genres seine Kraft eingebüßt – und durch seine Vorliebe für Bedachtes, Lehrhaftes, Reflektiertes bloß Angemessenes und Anständiges erreicht. Und darüber vergessen, dass es im Kino vor allem um Atmosphäre, Klang, Stil geht – und in den besseren Genre-Fantasien um Schmutz, Schweiß, Ekstase.
Gegen Ende macht der Essay plötzlich halt. Keine Klagen mehr. Und keine Statements. Dafür gibt es ein Zwischenspiel, das berührt. Es geht um Vögel in einem Zimmer, um Vampire, die Gefährliches versprechen, um Krieg, um den verletzten Robert Graf und seinen kleinen Sohn, der den Vater bewundernd anschaut. Da wird dann alles rätselhaft schön, auch fein und zart.
Was als Fazit bleibt? Selbstverständlich müssen wir weiterhin bewundern, was uns erstaunen lässt: bei Reitz und Wenders, bei Arslan und Petzold. Aber – genauso selbstverständlich – sollten wir, das betont »Offene Wunde deutscher Film« mit List und Verve, nicht vergessen, was uns durch Grelles und Rüdes im Kino berührt oder erschreckt oder erschüttert: all das Untergründige in den Bildern, das uns im Innersten verstört.
Norbert Grob
Unter Junkies
Perspektive deutsches Kino: »Die beste aller Welten« von Adrian Goiginger
Erstmals wurde der Kompass-Perspektive-Preis verliehen, und gleich traf es den Richtigen: Adrian Goigingers »Die beste aller Welten« erzählt von einem Zweitklässler in Salzburg, für ihn ist das Leben ein reiner Kindheitstraum: Lagerfeuer am Strand, Abenteuergeschichten, die große Freiheit. Aus seiner Sicht erzählt Goiginger – und hält dieser Perspektive des Subjektiven die Realität entgegen: Die Eltern sind Junkies, in der Wohnung versammeln sich allabendlich allerlei suspekte Gestalten, nach der Euphorie kommt regelmäßig das apathische Tief. Das ist für den Kleinen ganz normal, und was ihm doch mal seltsam vorkommt, verarbeitet er in Fantasy-Stories. Dass er seinen Klassenkameraden das Rauchen beibringt und Feuerwerkskörper in die Schule mitbringt, kann die Mama hinbiegen – schließlich liebt sie ihren Sohn abgöttisch. Goiginger zeigt nicht nur das schlimme Kindheitselend, dem man entkommen muss, sondern deutet auch auf die Liebe und die Fürsorge und die Geborgenheit, die trotz allem in allem spürbar sind. Kein Vernachlässigungs-Sozialmelodram, sondern ein Familienfilm – mit dem Heroin als zusätzlichem Familienmitglied.
Adrian Goiginger hat sich von seinem Studium an der Filmakademie Ludwigsburg ein Jahr freigenommen, dieser Film musste raus – es ist in jeder Hinsicht sein Film. Denn der Siebenjährige im Film heißt Adrian, Goiginger erzählt seine eigene Geschichte. Aber er lässt sich von seiner Biografie nicht gefangen nehmen, erzählt so wahrhaftig wie liebevoll, so detailliert wie spannend. Und Jeremy Miliker, der den jungen Adrian spielt, ist einfach umwerfend.
Harald Mühlbeyer
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